Ulrich Kaisers Buch enthält neun in der anthroposophischen Zeitschrift Die Drei zwischen 2011 und 2018 erschienene sowie zwei als Einleitung bzw. als Schlusswort erstveröffentlichte Studien zu hermeneutischen Frage- und Problemstellungen der Anthroposophie und zu Rudolf Steiner als Literat und Redner. Es geht Kaiser (= Verf.) nicht um Steiner-Apologetik, sondern um eine am Verstehen orientierte Erörterung des Entwicklungspotenzials der Anthroposophie im ‚Zeitalter der Narrative‘. Adressiert sind die Essays sowohl „nach innen“, als „Aufräumarbeiten im eigenen Haus“ der Anthroposophie (37), die dabei wird „Federn lassen müssen“ (22), als auch „nach außen“, als das Sichtbarmachen von akademischen Anschlussmöglichkeiten der diskutierten Themen an gegenwärtige allgemeine wissenschaftstheoretische, fachwissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurse (37).

Die neun Studien sind in drei Teile gegliedert. Der erste Teil analysiert Grenzen und Chancen der „Grundbegriffe“ Dogma und Hypothese als divergierende, resp. alternierende Rezeptionszugänge zum Werk Rudolf Steiners (40–99). Der zweite Teil bietet unter dem Topos „Umkehr der Denkform“ Beispiele für esoterisches Denken (100–137) sowie eine Analyse zur Debatte zwischen Rudolf Steiner und dem Parapsychologen Max Dessoir zu hermeneutischen Problemen eines einerseits ablehnend-kritischen und eines andererseits verständnisorientierten Umgangs mit der Anthroposophie (138–172). Der dritte Teil vermittelt über die Begriffe Performativität und Narrativität die im Vorherigen vorbereitete Kernthese des Buches, die den hermeneutischen Zugang zur Anthroposophie über den Erzähler Rudolf Steiner plausibel machen soll (156–254).

Die auf Verständnis und Dialog angelegte und im Ganzen offene Diktion der Analysen, Darstellungen und Interpretationen zu den Werken Steiners entspricht dem besonderen, wenn man so will, weichen „erzählerischen Charakter“ der Arbeit und ihrem dialogorientierten hermeneutischen Zugang. Ohne bekenntnishafte Verklärung oder „verbissene“ Apologetik wird dem Leser in „lockerer Haltung“ (89) ein breites, sachkundig ausgeleuchtetes und kritisch erörtertes Spektrum zentraler Problemstellungen der Anthroposophie zum Überdenken angeboten, wobei stets mögliche Anknüpfungspunkte zu entsprechenden, allgemeinen und speziellen Diskursen der akademischen Wissenschaften ins Spiel gebracht werden. Bei aller Offenheit in der Diktion ist gleichwohl ein klarer und begründeter Standpunkt des Autors, wenngleich unaufdringlich und subtil, erkennbar. Nämlich: die Anthroposophie nach dem ‚Ende der großen Erzählungen‘ (Lyotard) als potenziell nachvollziehbare, überschaubare und lebensweltlich-orientierende „kleine Erzählung“ zur kritischen Prüfung zu empfehlen (ebd.).

Die Fülle der erörterten, zum Teil auch nur angerissenen Themen sowie die produktive Systematik, mit der der Verf. seine Thesen entfaltet, sind geeignet, nicht nur der Steiner- und Anthroposophie-Forschung, sondern auch dem anvisierten Dialog mit der akademisch etablierten Wissenschaft vielversprechende Anstöße zu weiterer Arbeit zu geben.

Auch wenn die einzelnen Studien in einem Zeitraum von sieben Jahren und zu verschiedenen thematischen Schwerpunkten entstanden und veröffentlicht wurden, so lässt sich im Aufbau des Buches gleichwohl eine sich entfaltende argumentative Logik erkennen, die sich einerseits auf die Darlegung einer differenzierten Deutungsstruktur der Anthroposophie im engeren Sinne bezieht und die andererseits in einen weiteren, auch aktualisierenden wissenschaftstheoretischen und ideengeschichtlichen Kontext eingebettet ist. So etwa in die theologische und philosophische Diskussion um Bestand und Wandel von Dogmen, die sprachphilosophische und kulturwissenschaftliche Debatte um Performanz und Narrativität u. a. m. Die sich auf dieser kontextuellen Ebene ergebenden Fragen nach Kohärenz, Relevanz und Defizienz der vom Verf. hergestellten Beziehungen der Anthroposophie zu diversen Theoriemodellen lassen sich vom Aufbau des innovativen, anspruchsvollen und systematisch durchdachten Analyse- und Deutungsangebots zur Anthroposophie und zu Rudolf Steiner trennen. Dabei liegen die innovativen Stärken des Buches vor allem auf der methodologischen Ebene der Entfaltung einer hermeneutischen Tiefenstruktur zur Erörterung und Beurteilung der Anthroposophie und ihres Gründers und Interpreten. Auf diesen Schwerpunkt soll zunächst und eingehender hingewiesen werden. Fragen und kritische Anmerkungen zur Verknüpfung mit werkgeschichtlichen Kontexten wie zu den vom Verf. aufgerufenen Theoriemodellen sollen zum Schluss angesprochen werden.

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