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Der Wille und die neue Spiritualität

Unter diesem Titel fand vor wenigen Wochen das Wochenendseminar im Jugendsektionshaus und rund um das Goetheanum statt. Die Jugendsektion am Goetheanum wird endlich wieder mehr zu einem Seminarzentrum.

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Die Stiftung Edith Maryon

Am 2. Mai 2024 gedenken wir unserer Namensgeberin, der Bildhauerin Edith Maryon, anlässlich ihres 100. Todestages.

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Sterben aus anthroposophischer Sicht

Das Forum der Sterbekultur beschäftigt sich seit 14 Jahren mit den Themen Tod und Sterben aus anthroposophischer Perspektive

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«Welten-Zeitenwende-Anfang»

Inhalt der Februar-Ausgabe ist der Blick auf die Weihnachtstagung am Goetheanum vom 26. bis 31. Dezember 2023, zu der die Goetheanumleitung und die Anthroposophische Gesellschaft in der Schweiz eingeladen hatten.

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Wie mich die Weihnachtstagung begeisterte

Die Anthroposophie selbst war jedoch schon immer Teil meines Lebens. Als Kind mit einem Waldorfhintergrund, Schüler einer Waldorfschule sowie Student der Uni Witten/Herdecke und auch in meiner ärztlichen Laufbahn war ich durch das erweiterte Menschenbild schon immer inspiriert und halte insgesamt viel von der Integrativmedizin.

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Schweizer Mitteilung

Schweizer Mitteilungen

Die Januar-Ausgabe von “Anthroposophie – Schweiz” startet mit Auftakt ins neue Jahr von Marcus Schneider

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Wozu brauchen wir eine Anthroposophische Gesellschaft?

Man wird nicht Mitglied einer gewöhnlichen Gesellschaft: Man fügt sich mit seiner eigenen menschlichen und kosmischen Wirklichkeit in dieses neue soziale Gebäude ein, nimmt daran teil und formt es immer wieder neu.

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Schubladendenken und sachliche Erzählung

Tiefe Graben

Bücherstapel | Foto: Pixabay

 

von Barbara Messmer | 16.12.2022

Anthroposophinnen und Anthroposophen stehen seit der Corona-Pandemie verschärft im Fokus von Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen. Es wird ein Bild von ihnen verbreitet, das festsitzt und wirkt. Erstaunt war ich, als ich neben diesen schnelllebigen Medien nun auch in Büchern, die eine längere Lebenszeit haben, etwas fand. Das kann förderlich oder schädlich sein. Je ein Beispiel ist mir begegnet.

Die Kriminalromanserie um den Privatermittler Georg Dengler von Wolfgang Schorlau (*1951) ist sehr beliebt bei Deutschlands linksgerichtetem Bildungsbürgertum. Die Auflagen haben Millionenhöhe erreicht. Die gesellige Freundesrunde von Dengler, oft in realen Restaurants von Stuttgart sitzend, und seine Geliebte Olga, eine ehemalige Taschendiebin mit gelegentlichen Rückfällen, bildet das emotionale Kontinuum der Serie. Aber mehr dürften seine Leserinnen und Leser schätzen, dass Schorlau brisante gesellschaftspolitische Themen aufgreift und überraschende Hintergrundinformationen vorlegt. Der Autor und sein Protagonist solidarisieren sich mit den Unterprivilegierten und gehen gegen Korruption, Betrug und Kriminalität der Mächtigen vor. Schorlaus Kriminalromane klären also durchaus auf, bei Themen wie Massentierhaltung, Privatisierung des Wassers, Pharmaindustrie, NS-Verbrechen, Terrorismus und ›Stuttgart 21‹. In ›Die schützende Hand. Denglers achter Fall‹ (Köln 2015) wagt sich Dengler an die Aufklärung der Tode der NSU-Aktivisten Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos als Mord und wird für seine »Verschwörungstheorien« angegriffen.

Im wohl letzten Band der Reihe ›Kreuzberg Blues. Denglers zehnter Fall‹ (Köln 2020) nimmt Schorlau das brutale Geschäft großer Immobilieninvestoren in Berlin aufs Korn. Im Nachwort schreibt er, dass im Februar 2020 die Entscheidung anstand, ob er das Corona-Thema im Buch aufgreife. Er entschied sich dafür, und so kam auch Anthroposophie ins Spiel. Diese Entscheidung hätte er besser sein lassen sollen, denn es fällt auf, dass er diesem Thema weniger gut gewachsen ist und beide Stränge nicht immer geschickt miteinander verbindet.

Denglers Freund und Nachbar Martin ist plötzlich Impfgegner geworden, taucht tagelang im Internet ab und versucht, seine Stuttgarter Freunde zu überzeugen. Sie machen sich Sorgen um ihn. Leo, der Journalist der Runde, klärt sie über die Querdenker und ihre Argumente auf und kommt dabei auf die Anthroposophie zu sprechen: »Hier im Südwesten sind die Anthroposophen stark. Was ich gelernt habe ist, dass sie zwei Gesichter haben.« (S. 389) Mit dem öffentlichen Gesicht bemühten sie sich um einen guten Eindruck, da ihre Einrichtungen staatliche Zuschüsse bekämen. Zum Impfen würden sie sich so stellen: »Da geben sie sich gerne einen seriösen wissenschaftlichen Anstrich. Die Lehren ihres Gurus Rudolf Steiner verwässern sie dann ein wenig«. (S. 390). Kinderkrankheiten durchzustehen stärke das Immunsystem und fördere die Entwicklung. »Das ist wissenschaftlich falsch, klingt aber irgendwie … na ja, harmlos«. (ebd.)

Aber Vorsicht! »Hinter der freundlichen Maske der Anthroposophie steckt ein menschenfeindliches, zutiefst obskures Welt- und Menschenbild.« (ebd.) Und hier folgt die oft verbreitete, fälschlich auf einen Ursache-Wirkung-Mechanismus verkürzte Lehre von Reinkarnation und Karma: Krankheiten seien auf eine Schuld in einem vorigen Leben zurückzuführen.[1] Dazu sensationelle Beispiele wie: »Unter Asthma leidet, wer im vorherigen Leben zu wenig musiziert hat.« (S. 391) Die Freundesrunde kann das nur als »total durchgeknallt« oder »Theorie eines Geisteskranken« verstehen. (ebd.)

 

Theorie und Praxis der Verschwörung

Leo erzählt weiter, dass Martin sich ein Video angesehen habe, »in dem die Corona-Krise als ein spiritueller Angriff des Teufels auf die Menschheit gedeutet wird, der aktuell seine Inkarnation vorbereite. Mit Geld und Macht, Furcht und Lüge, also mit Bill Gates« (S. 391f.). Gegenmaßnahmen beim Corona-Virus seien, »sich mit spirituellen Vorstellungen schlafen zu legen, sich dem Sonnenlicht auszusetzen und überhaupt viele hoffnungsvolle eurythmische Bewegungen zu vollführen. Eine Impfung dagegen mache taub für die Botschaften ans Karma.« Und: »Die Krankheit ist die Bedingung für eine spätere geistige Gesundheit.« (S. 392). Das wirkt auf die Romanfiguren wie Kälte und Gefühllosigkeit gegenüber leidenden Kranken.
Dann geht es um die anthroposophischen Medizin. Michaela Glöckler, »Autorin eines beliebten Gesundheitsratgebers für Kinder« (ebd.), habe darin ohne Mitleid einen Keuchhustenanfall beschrieben und als entwicklungsfördernd bezeichnet. Bereits 200 Seiten vorher gibt es ein Gespräch, in dem eine Ärztin über die Masern, an denen »weltweit jährlich mehr als 140.000 Menschen sterben«, berichtet: »In den Waldorfschulen in Süddeutschland sind unglaubliche 30 Prozent der Kinder nicht gegen Masern geimpft. Verantwortlich dafür sind anthroposophische Ärzte.« Auch in der Fachpresse sei zu lesen, »dass die anthroposophische Medizin immer wieder für Masernausbrüche verantwortlich sei.« (S. 198)

Schorlau fühlte sich wohl verpflichtet, diese Einschätzung der Anthroposophie zu untermauern. Und schwupp: Denglers Sekretärin Petra entpuppt sich als streng erzogene Anthroposophen-Tochter und Waldorfschülerin. Sie schildert auf über fünf Seiten ihre Kindheit als qualvoll mit allen Klischees: sieben Kinder, Buben mit Topfschnitt in bestickten Kitteln, Mädchen mit Zöpfen in pflanzengefärbten Hängerchen, absolutes Fernsehverbot, Verbot des Wortes »Nein« usw. Sie erzählt, dass sie »die Taille verdecken mussten, was die Erweckung früher Sexualität verhindern sollte.« (S. 376) Es stimmt allerdings, dass früher Erziehungsempfehlungen oft zu rigoros umgesetzt wurden.

Dengler hört mitfühlend zu und ist extrem geschockt. Schorlau dramatisiert das Geschilderte, indem er Petra wiederholt mit den Tränen kämpfen lässt. (vgl. S. 375-82)

Die Szene wirkt konstruiert und künstlich. Schorlau flicht öfter biografische Hintergründe ein, um nachvollziehbar zu machen, wie jemand so geworden ist. Aber hier gibt es keine Frage nach dem Motiv der Eltern. Im Nachwort wird klar: Schorlau hat eine einzige, anonym bleibende Gewährsfrau gehabt. Dass diese Frau keine Ahnung von Anthroposophie hat, zeigt sich, als »Petra« im Roman ihre Mutter als Impfgegnerin schildert, die das Corona-Virus auf eine schlechte, niedrige Schwingung zurückführt (vgl. S. 379).[2] Das klingt eher nach New Age, jedenfalls nicht nach Anthroposophie. Eine gründliche, repräsentative Recherche wäre hier wünschenswert gewesen!

Dann wird es im Krimi differenzierter. Der Journalist Leo warnt davor, Impfgegner zum Beispiel schnell mit der Bezeichnung »Verschwörungstheorie« abzuwerten: »Der Begriff transportiert unterschwellig die Behauptung, es gebe keine Verschwörung, und das ist falsch.« (S. 387). Das absichtsvolle Aussetzen des Corona-Virus aus chinesischen Laboren sei eine solche »Theorie« – nicht beweisbar und deshalb erfunden. Verschwörungstheorien seien eine Waffe von Politikern und Geheimdiensten. Leo: »Der Begriff ›Verschwörungstheorie‹ ist selbst eine Verschwörung.« (S. 388) Im politischen Kontext des Krimis ist das eine originelle Aussage, doch leider wirkungslos in Bezug auf die Anthroposophie, über die unmittelbar danach verhandelt wird. Sie erscheint als abstruse, unverständliche Guru-Lehre, die auch als »Verschwörungstheorie« zu gelten hat, obwohl das hier explizit nicht gesagt wird.

Schorlau benutzt in seinem Corona-Strang die geniale Idee, Verschwörungstheoretiker im Rahmen einer Verschwörung zu schildern. Dafür erfindet er eine vom Bundeskanzleramt unterstützte, rechtsgerichtete Geheim-Organisation, welche die BRD vom Links-Kurs abbringen soll. In dieser vertritt einer der Drahtzieher die Idee, auf die Massenbewegung gegen CoronaMaßnahmen aufzuspringen, den Protest gegen die Einschränkung der Grundrechte lautstark anzuheizen und insgeheim diese Aktiven einzufangen. Er ziele auf »Verunsicherte. Vor allem denke ich an Esoteriker, anthroposophische Sekten und Impfgegner, die sich jetzt noch eher im anderen Lager tummeln. Wir haben eine historische Chance, diese Kräfte an die nationale Sache heranzuführen. [...] Eine Massenbewegung, die zum ersten Mal nicht links, sondern offen, sehr weit offen für die rechten Kräfte ist. Für uns. Wir holen uns die Esoteriker zurück.« (S. 191) – Wie schön, dass Schorlau den Anthroposophinnen und Anthroposophen eine linke politische Ausrichtung bescheinigt!

Der Drahtzieher, der diesen Einfall hat, schleust »seine Leute« bei Demonstrationen ein. Manchmal taucht er selbst kurz auf, vom wachsamen Dengler natürlich bemerkt, und beobachtet zufrieden, wie seine »Verschwörung« funktioniert. Ein echter Schorlau-Schachzug, um den Rechtsdrall der Impfgegner zu betonen – und zur Manipulation zu erklären!

Schorlaus Kriminalromane bewegen sich auf einem schmalen Grat zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Die Leserinnen und Leser sind aufgerufen, hier zu unterscheiden. Verhängnisvoll ist dabei, dass die Neigung, kritisch nachzuprüfen, aufgrund der großen Spannung auf der Strecke bleibt. Da Schorlau mit einem aufklärerischen Anspruch auftritt, er vornehmlich geheime, kapitalistische Machenschaften aufdeckt und auch sonst gesellschaftskritisch unterwegs ist, dürfte sein Publikum eher geneigt sein, ihm das meiste zu glauben.

 

Hochinteressante Frauengestalten

Ganz anders klingen Anthroposophie und Waldorfschule bei Julia Franck (*1970), die in den 90er Jahren mit Zoë Jenny, Judith Hermann, Inka Parei und Jenny Erpenbeck als hoffnungsvoller schriftstellerischer Nachwuchs gefeiert wurde. Noch nicht 30-jährig, schrieb sie die Romane ›Der neue Koch‹ (Zürich 1997) und ›Liebediener‹ (Köln 1999). Auch für die folgenden Werke erhielt sie Preise, Nominierungen oder Stipendien. Den endgültigen Durchbruch, den Deutschen Buchpreis und eine Auflage von fast einer Million erreichte sie mit dem Roman ›Die Mittagsfrau‹ (Frankfurt a.M. 2007). Ihre Bücher wurden in vierzig Sprachen übersetzt.

Bereits in ihrem ersten Roman beweist Franck eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe für äußere und innere Vorgänge unter Menschen. Die Hauptfiguren ihrer Romane sind fast immer Frauen, oft exzentrische Personen, deren Perspektive sie mit großer Einfühlung schildert. Sie beschreibt so konkret, dass ihren Büchern Sinnlichkeit attestiert wurde. Gleichzeitig wird zu Recht ihre Bildhaftigkeit gelobt, da Julia Franck mit ihrer reichen Phantasie reale Erlebnisse zu Bildern zu verdichten vermag. Ihr Hauptinteresse gilt menschlichen Beziehungen und gesellschaftlich verursachten Unfreiheiten. Ihr zuletzt erschienenes Buch ›Welten auseinander‹ (Frankfurt a.M. 2021) beinhaltet erstmals Autobiografisches. Es handelt von ihrer Kindheit und Jugend bis zum 22. Lebensjahr. Spannend eingerahmt ist das Werk durch die Ungewissheit um das Schicksal ihrer ersten großen Liebe, dem gleichaltrigen Berliner Klassenkameraden Stephan.

Die Familiengeschichte der mütterlichen Linie ist allein schon hochinteressant: die Urgroßmutter eine in der Nazi-Zeit verfolgte und im Versteck überlebende Jüdin; die Großmutter eine bekannte Bildhauerin, ebenfalls wegen ihrer Abstammung verfolgt, die dann als überzeugte Kommunistin 1950 bewusst nach Ostberlin zieht. Julias Mutter Anna wurde Schauspielerin und wanderte 1978 mit vier Töchtern, darunter Julia und ihre Zwillingsschwester Cornelia, nach Westdeutschland aus.

Vor der Zeit im Auffanglager Marienfelde hatte die Mutter die Anthroposophie entdeckt. Schon die Urgroßmutter Lotte Franck war »bei Vorträgen Rudolf Steiners gewesen und hatte manches von mit Aquarellfarben und liebten die biblischen Geschichten. Julia Franck erinnert sich an das Adventsgärtlein, eine szenische Darstellung zu Sankt Martin und die Kinderfreizeit. So sehr Mutter und Kinder von den Ritualen fasziniert waren, stießen sie sich auch an einigem.
Doch wie beschreibt Julia Franck das Befremdende? »Von all den Erzengeln verstand ich wenig. Die Darstellung des Erzengels Gabriel erschien mir unheimlich«, denn mit so großen, schweren Flügeln konnte doch »kein Mensch« fliegen (S. 119f). Für Vater- und Sohnesgott hatten sie keinen Vergleich in ihrer Familie, wo die Väter in der Regel fehlten, wohl aber Vorstellungen für die »gewöhnliche Frau« Maria und Josef, der »nicht der richtige Vater von Jesus war«. Und: »Noch waren alle Juden.« Das kannten die Kinder! Weiter: »Ich wollte glauben lernen, so wie ich schwimmen und Rad fahren gelernt hatte … Aber ich scheiterte.« (S. 120) Auch Beten versuchte Julia intensiv, doch Gott sandte ihr nie ein Zeichen. (vgl. S. 121f.) Kurz vor der Ausreise wollte die ältere Schwester unbedingt konfirmiert werden, und die achtjährigen Zwillinge erhielten ebenfalls die Taufe. Bei Julia war niemand für die Patenschaft übrig, also bekam sie zwei fremde Menschen aus der Gemeinde, die sie nicht mochte. »Die Taufe erschien mir als fauler Zauber.« (S. 125)
Noch vom Auffanglager aus hatte Anna für ihre Töchter an der Waldorfschule Rendsburg »drei ihrer begehrten Freiplätze für uns Sozialfälle« erhalten (S. 97). Die Zwillinge durften das Lager früher verlassen, denn eine Waldorfkindergärtnerin nahm sie auf. Aber, oh je, da stießen Welten aufeinander! Die zwei freiheitlich aufgewachsenen Rangen kannten weder Tischmanieren noch Körperhygiene und hielten weder Ordnung noch Rhythmen ein. Sie verstanden so viel Neues auf einmal nicht und gerieten in die Defensive, aus Scham in Heimlichkeiten, aus Not ins Stehlen. Julia Franck schreibt abschließend: »Nur wenige Wochen mussten wir bei dieser Frau bleiben.« (S. 30)

 

Exzentrische Familie auf dem Land

Im Sommer 1979 zog die Familie in einen heruntergekommenen Bauernhof, fünf Kilometer von Rendsburg entfernt. Als Sozialhilfeempfängerin baute Anna Gemüse an und hielt Nutztiere. Sie liebte zwar Gartenarbeit und Tiere, war aber wenig für Haushalt, Zeiteinteilung, Kontinuität und Kinderversorgung talentiert. Insofern mussten Julia und ihre Schwestern früh die Hausarbeit übernehmen, Holz hacken, bei den Tieren und im Garten helfen. Und zum Ärgernis des kleinen Dorfes verhielten sich alle unkonventionell. Die Mutter lief nackt im Garten herum. Kein Vater war anwesend, ja nicht einmal bekannt. Die Töchter liefen im Sommer nur barfuß und hatten im Winter nur ein Paar Schuhe. Ihre Second-Hand-Kleider waren schmutzig und durchlöchert, Die Großmutter in Ostberlin ließ ihnen Anzüge (»Strampelanzüge«) in schrecklichen Farben stricken, »über die selbst in der Waldorfschule die anderen Kinder staunten und lachen mussten.« (S. 42)

So schlossen die Mädchen (noch dazu als »Daddelschüler«) wenige Freundschaften im spießigen Dorf und auch nicht in der Schule, wo die Kinder meist aus einem wohlsituierten Elternhaus kamen, in dem der Vater das Geld verdiente und die Mutter den Haushalt besorgte. Julias Mutter Anna war eine schöne, temperamentvolle, aber sprunghafte und jähzornige Lebenskünstlerin, die öfter zu esoterischen oder anthroposophischen Seminaren verreiste oder auf einen Nachbarhof verschwand. Ein Herz und eine Seele waren die Zwillinge mit ihr, wenn sie Geschichten erzählte, vor allem reale aus der Familie. Doch im Grunde waren ihr die Kinder lästig. Später platzte Julia einmal heraus: »Warum hast du uns überhaupt bekommen, wenn wir dir doch so zu viel sind?« Antwort: »Wir hätten uns sie als Mutter ausgesucht. Kinder suchten sich ihre Eltern aus.« Julia wusste nicht, dass dies halb verstandenes Karmawissen aus der Anthroposophie war, aber sie empfand die Absurdität dieses Argumentes: »Wir konnten sie nicht ernst nehmen und entwickelten unseren Galgenhumor für solche Lebenslagen.« (S. 150 So auch für Waldorflehrerinnen und -lehrer, die sie nicht altersgemäß behandelten (vgl. S. 183).

Julia blieb vier, Cornelia acht Jahre auf der Waldorfschule Rendsburg. »Mit dem Beginn des neuen Lebens im Westen und an der Waldorfschule erfanden wir uns. Wir wollten andere sein, diejenigen, die dazugehörten.« (S. 126) Julia nannte sich Susanne und Cornelia Johanna. Beide waren begeistert, dass lange niemand ihre echten Namen wusste. In der Klasse waren meist 45 Kinder. Mit diesen litten die Zwillinge unter dem Verbot von Plastiktüten, Kugelschreibern oder Buttons, verschwanden ab der sechsten Klasse öfter aus dem Klassenzimmer und trieben sich draußen herum. »Es gab aufregendere Abenteuer als Eurythmie.« (S. 127)

Mit zwölf Jahren wurde die wilde und abenteuerlustige Julia empfindsam und introvertiert. Sie entzog sich den Streitereien zwischen Mutter und Schwestern, schloss sich in ihrem Zimmer ein und schrieb über 20 Tagebücher voll. Der Schimmelgeruch im Haus ekelte sie und sie wusch sich zwanghaft die Hände. Die Ziege, die zeitweise im Hausflur lebte, zerkaute ihr einen Antwortbrief von Luise Rinser, der durch den Briefkastenschlitz gekommen war. Julia litt und träumte davon, »hinaus in den Schnee zu gehen und mich dort liegen und sterben zu lassen.« (S. 165) Der Klassenlehrer und die Fachlehrer bemerkten diese Wandlung (die Mutter nicht), machten sich Sorgen und schrieben das ins Zeugnis der 6. Klasse. Julia hoffte, dass die Mutter nun aufmerksam würde, aber das Zeugnis wurde nur ungelesen in der Küche herumgeschoben, bis Julia es weinend zerriss.

Im Juni 1983, mit 13 Jahren, wagte Julia Franck einen Neuanfang bei Freunden der Familie. »Unter keinen Umständen wollte ich in Berlin länger eine Waldorfschule besuchen. Ich sehnte mich nach dem Normalen, der ganz gewöhnlichen Schule, der unauffälligen Mitte in der Gesellschaft.« (S. 199) Sie war gewarnt worden, dass sie ein Jahr würde zurückgehen müssen. Aber sie lernte mit Leichtigkeit, erhielt das beste Zeugnis der zehnten Klasse und konnte aufs Gymnasium wechseln. In der neuen Familie tauchen zwar auch Konflikte auf und Julia schrieb weiterhin Tagebücher voll, aber am Gymnasium lernte sie Stephan kennen und damit einen Seelenverwandten, mit dem sie stundenlang über Literatur und Weltprobleme reden konnte, obwohl sie von der Herkunftsfamilie »Welten auseinander« lagen.

Auch in diesem Buch beweist Julia Franck ihr Beobachtungstalent, obwohl sie sich hier selbst in einer vergangenen Zeit betrachten muss. Sie versucht, sich immer genau zu erinnern, um allem gerecht zu werden. Zu Hilfe kommt ihr dabei ihr scharfer, ja unbestechlicher Blick. So werden die Ostberliner Christengemeinschaft und die Rendsburger Waldorfschule rein aus dem kindlichen Erleben heraus geschildert, zwar genau, aber ohne Wertung. Es gibt Kritik an Konkretem, aber nie in Form von generellen Angriffen oder Verurteilungen. Dieser Haltung bleibt sie treu, wenn sie den Umgang ihrer Mutter mit Anthroposophie und Esoterik schildert. Auch die ungewöhnlichen, die Kinder belastenden Lebensumstände beschreibt sie ohne Anschuldigungen oder Spott, sondern zugeneigt und nüchtern. Sogar die »Schusseligkeit« ihrer Mutter und die Ablehnung ihr selbst gegenüber versucht sie zu verstehen. Die vielen Verletzungen erwähnt sie ohne Bitterkeit. Würden mehr Lebenserinnerungen in dieser Haltung geschrieben, wäre die Welt friedvoller.

 

Auswertung

Die Entscheidung von Wolfgang Schorlau, die Corona-Problematik kurzfristig in seinen zehnten Dengler-Krimi aufzunehmen, schadet dem Ruf der Anthroposophie. Denn diese kann in der offenbar schnell und oberflächlich recherchierten, verballhornten Form nur als Unsinn erscheinen. Die Leserinnen und Leser können aber nicht wissen, wie ungenau und unvollständig Schorlau sich informiert hat. Die Chance, wirklich aufzuklären, wurde verpasst.

Dass Julia Franck sich heute, da die Anthroposophie und ihre Einrichtungen angeprangert und lächerlich gemacht werden, der Bekanntschaft mit dieser nicht schämt, ist beeindruckend. Sie maßt sich kein Urteil an, wo sie zu wenig weiß, obwohl sie im Vergleich zu Schorlau ganz persönliche Erlebnisse vorzuweisen hat. Im Gegenteil: Sie erwähnt alles, was sie schätzte und liebte, in ihrer durchgängig erlebnisgetreuen Darstellungsweise. Dennoch bleibt auch hier der tiefe Graben spürbar, der sich immer auftut, sobald es um den Anspruch geht, übersinnliche Bereiche erfasst zu haben.

Barbara Messmer | *1953, Studium der Europäischen Ethnologie, Geschäftsführerin des anthroposophischen Arbeitszentrums Frankfurt a.M.

[1] Dabei grenzt Rudolf Steiner im Vortrag vom 16. Mai 1910 in ›Die Offenbarungen des Karma‹ (GA 120) gerade den Karma Begriff streng von einer einfachen Ursache-Wirkung-Folge ab.

[2] Eine Auffassung, in der ein physikalisches Phänomen wie die Schwingung, allem, auch dem Geistigen zu Grunde liegen soll, hat Rudolf Steiner als dritte Form eines irreführenden Monismus im II. Kapitel seiner ›Philosophie der Freiheit‹ (GA 4) verworfen.

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