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Eine taufrische Welt

Eine taufrische Welt

Wir sind heute alle ‹Augen-Menschen›, wird gesagt. Das Auge ist das dominante Organ, auf das sich fast alles hin organisiert. Um unsere Aufmerksamkeit – visuell – wird ständig und überall gebuhlt. Wir sind überreizt durch die bunte, flimmernde Welt. Oft schauen wir deshalb aus uns heraus, wie in ein Aquarium, in die Welt, die wir kennen, die wir gewohnt sind, die uns nicht ohne Weiteres mehr in Begeisterung versetzen kann. Die Dinge sehen so und so aus – langweilig. Wir nutzen die Augen meist nur noch um uns zu orientieren, das Leben zu leben … Das täglich zu erlebende Visuelle ist eigentlich blass, grau, öde, es inspiriert uns nicht. – Nirgends geht es dabei wirklich ums Auge und um eine bewusste Sinneserfahrung.
Stelle dich in die Natur! Orientiere dich zu einer Landschaft, einem Baum, einem Berg, einem Bach, und schließe die Augen. Baue vor dem inneren Auge die Landschaft auf – wie wird es gleich aussehen? Wie werden die Farben sein, das Licht, die Wolken, wie klar die Luft? Öffne die Augen!
Jeder, der das macht, verfällt in ein Staunen: «Ah, oh, wow!», wird man hören. «Alles so klar, so frisch, so saftig, so da!»
‹Anblick› kultiviert diesen erfrischenden Blick in die Welt – als ob es der erste Blick wäre. Wie der erste Schrei des Kindes, der sagt: Jetzt bin ich auf der Welt! So mögen wir schauen lernen, voller Achtung vor dem Wunder der Sinneserscheinungen, die uns, schauen wir neu hin, immer taufrisch begegnen, wie jüngst geboren, für uns, in diesem Moment.

Das Innere der Natur ist das Innere des Menschen
Im Inneren des Menschen offenbart sich der Wesensgehalt der Natur. «Für den Menschen besteht nur so lange der Gegensatz von objektiver äußerer Wahrnehmung und subjektiver innerer Gedankenwelt, als er die Zusammengehörigkeit dieser Welten nicht erkennt. Die menschliche Innenwelt ist das Innere der Natur»,  so schreibt Rudolf Steiner über Goethes Weltauffassung.

Ohne zugrunde liegende Materie
«Das sinnenfällige Weltbild ist die Summe sich metamorphosierender Wahrnehmungsinhalte ohne eine zugrunde liegende Materie. […]», so Rudolf Steiner in seinen ‹Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften›. Die irdische Wirklichkeit ist als eine Erscheinung aufzufassen – als eine Erscheinung für die Sinne und für den Geist des Menschen. Nimmt man Wirklichkeit in dieser Weise entgegen, so verwandelt sie ihren Erlebnisgehalt. Überall zeigt sie sich dann als lebendig, als taufrisch hervortretend.

Goethes Blick – eine liebevolle Weltzuwendung
Von einem Goetheschen Blick kann gesprochen werden in Anlehnung an Goethes Art der Weltzuwendung. Goethes Gedicht ‹Die Metamorphose der Pflanze› ist – neben einer phänomenologischen, sehr exakten und sich verwandelnden Bildsprache über die Erscheinung einer Pflanze (seiner Urpflanze) – ein Liebesgedicht. Wie merkwürdig. Für ihn gehört das zusammen. Was er im Anblick der Pflanze erlebte, dieses Wunder, das Staunen, diese Offenbarung ihres Wesens, kann er nur in der Mitteilung an die Geliebte äußern, weil ihm das wesensverwandt ist. Goethe war ‹verliebt› in die Welt. Verliebt sein heißt: offen und empfänglich sein für die Besonderheiten eines Wesens. So kann Liebe aus allen Begegnungen quellen, die Natur speisend – aber auch uns; denn diese Liebe, in den Anblick hinein gelegt, ist nicht selbstisch, sondern die verbindende Matrix, in die wir alle eingewoben sind.

Verlebendigen
Sowohl eine gegenständliche als auch eine materialistische Naturanschauung machen aus dem Erscheinungs-Charakter der Wirklichkeit eine wesens- und geistlose Welt. Das Denken, ja die ganze Naturanschauung sind hier in den Tod gegangen.
Ergreift der Mensch aber erlebend, dass Wirklichkeit durch ihn selbst, durch seine Sinne sowie durch seine seelisch-geistige Auffassung, zur Erscheinung kommt, dann liegt es auch an ihm, ob sich eine tote oder eine lebendige, wesensgemäße Wirklichkeit ausbildet. Die Verlebendigung der Natur geht mitten durch den Menschen hindurch.
Zur Verlebendigung der Wirklichkeit bedarf es einer lebendigen Naturanschauung, wie sie exemplarisch durch Goethe vorgelebt und von Rudolf Steiner sowie einer Reihe von Goetheanisten weiterentwickelt wurde. Sie fußt auf einer elaborierten Sinneswahrnehmung sowie auf einem lebendigen Denken.

Was ist Wirklichkeit?
Jede Wirklichkeit besteht aus einem Zusammenkommen von einem übersinnlichen Anteil (den wir philosophisch oft Begriff, Idee oder Geistiges nennen) und einem sinnlichen Anteil (den wir geneigt sind Wahrnehmung, Stoff, Materie o.ä. zu nennen). Für das Zusammenkommen dieser beiden Seiten liefern die Sinne die ‹stoffliche›, das geistige Auffassungsvermögen die übersinnliche Seite.
Wirklichkeit hat einen prozessualen Charakter: Sie kommt als ein Gegebenes an unser Bewusstsein heran und tritt aus diesem als eine neue, vom Bewusstsein getragene Seinswirklichkeit hervor. Wirklichkeit wird im Menschen neu.
In dem Begriff Wirklichkeit ist das Verb wirken darinnen. Alles, was wirkt, bringt zugleich Wirklichkeit hervor. Der Mensch steht mitten darin. Ohne dass eine göttliche Welt – wie sollte man es anders nennen? – in ihm wirkt, gäbe es ihn überhaupt nicht. Das Besondere ist aber, dass die Wirklichkeit in ihm zugleich zu Bewusstsein kommt. Wenn er in diesem Bewusstsein das Leben erkennen lernt, öffnet er sich damit das Tor zur Wirklichkeit der Welt. Und zugleich entsteht dann in dieser, seiner Wirklichkeit eine neue Wirklichkeit, eine, die durch ihn hindurch gegangen ist! Damit bezeugt er, zeugt und erzeugt er eine neue Welt, die wirklich ist.

Begriffe
Der Begriff ist die Substanz der Welt. Begriff kommt von Begreifen. Begreifen ist ein fortwährender Prozess, keine Station, an der wir mit der Welt fertig sind. Wir sind niemals fertig mit ihr, weil sie erstens lebendig ist wie wir und zweitens in unserem Leben, durch unser Leben immer weiter entsteht. – Unsere Begriffe sind nicht das, was wir begriffen haben. Der Begriff wirkt unaufhörlich und kommt uns aus der Zukunft entgegen. Im Begriff gehen wir dem Wesen, das darin waltet, entgegen. Begriffe erweitern uns, wir wachsen in sie hinein, das heißt wir wachsen in die Welt hinein, werden immer reicher und erfüllen uns mit der Substanz, die wir im Begriff auszusprechen fähig werden.
Es gibt Begriffe, die können dastehen, wie Pflöcke, die uns den Weg versperren. Indem wir weitergehen mit ihnen, sie in uns und wir in ihnen, werden sie sich erst verwirklichen durch uns hindurch. Ohne den Menschen, der da ist und die Begriffe ins Leben erlöst, in seinen Wahrnehmungen und seinen Handlungen, seinen Gedanken und Empfindungen den Prozess einlöst, der in den Begriffen noch wie verzaubert wartet, wird der Begriff das Tote bleiben, das er uns vorgaukelt. Doch tot sind nur wir selbst, die wir den Begriffen nicht entgegenwachsen.

Kunst, die Wissenschaft und Wissenschaft, die Kunst wird
Ich behaupte: eine Kunst, die nicht zugleich Wissenschaft ist, ist keine Kunst. Sie ist einfach ‹machen›, (sich selbst) erleben, Selbstbezeugung. Wenn ich nicht zu einer Erkenntnis dessen durchstoße, was ich künstlerisch empfindend gestalte, bleibe ich im Scheinbereich der Kunst. Sie ist Stückwerk. Das ganze Kunstwerk zeugt vom Sein des Scheins, dessen ich mir bewusst werde! Und auf diesem Weg ist die Kunst immer auch Wissenschaft, forschend nach dem Seinsgrund, suchend nach dem Quell der Wirklichkeit, aus der heraus sie erst wirkt. In der Kunst wird die Welt dann ihre unendlichen Geheimnisse wirkend preisgeben. Kunst wird zur Erkenntnismethode des Lebendigen. – Und die Erkenntnismethode des Lebendigen ist Kunst.

Kunst, Wissenschaft und Religion
Kunst beruht auf Kreativität, Wissenschaft auf einem klaren Bewusstsein und Religion wendet sich dem geistigen Urquell der Welt zu. Ein schauendes Verhältnis zur Welt beinhaltet ein kreatives, voll bewusstes Hervorbringen, das gleichzeitig auch des Wesensgehaltes der Wirklichkeit ansichtig wird. Hier kommen Kunst, Wissenschaft und Religion wieder zusammen, die durch die Bewusstseinsentwicklung der Menschheit in eine partitionierte Dreiheit auseinandergefallen sind – ursprünglich aber einer gemeinsamen Einheit entsprungen sind.

Praxisbezug
«… erst wirkliche Relevanz erhält Wissen in der Praxis!» – Was bedeutet ‹Anblick› im Leben? Mein Blick in die Welt, auf mich selber und mein Gegenüber verändert sich. Achtung und Aufmerksamkeit in der Begegnung stellen sich ein – eine Lebendigkeit – weil ja jeder Augenblick neu ist, neu entsteht, weil ich ja beteiligt bin am Entstehen. Somit handelt es sich um eine bestimmte Art und Weise, wie ich in der Welt stehe, und dies wiederum wirkt sich aus auf alle Bereiche des Lebens, sei dies privat, öffentlich, kulturell, zwischenmenschlich, …

Verantwortungsübernahme
Als Konsequenz von Erkenntnis kann eine Verantwortungsübernahme (ent-) stehen, der Wille also oder das unbeirrbare Bedürfnis, an der Realisierung einer künftigen, friedvollen Erde zu arbeiten.
Ein Miteinander in Respekt und Wertschätzung fordert aber auch heraus: Bin ich bereit mich zu bewegen, zugunsten von jemand anderem zu verzichten, oder gar mich zu verändern? Bin ich bereit einzusehen, dass ich verantwortlich bin für all mein Tun – und Lassen?