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Annäherung des Erkennens an das künstlerische Schaffen

Unsere Erkenntnistheorie hat das Erkennen des bloß passiven Charakters, den man ihm oft beilegt, entkleidet und es als Tätigkeit des menschlichen Geistes aufgefaßt. Gewöhnlich glaubt man, der Inhalt der Wissenschaft sei ein von außen aufgenommener; ja man meint, der Wissenschaft die Objektivität in einem um so höheren Grad wahren zu können, als sich der Geist jeder eigenen Zutat zu dem aufgefaßten Stoff enthält. Unsere Ausführungen haben gezeigt, daß der wahre Inhalt der Wissenschaft überhaupt nicht der wahrgenommene äußere Stoff ist, sondern die im Geiste erfaßte Idee, welche uns tiefer in das Weltgetriebe einführt, als alles Zerlegen und Beobachten der Außenwelt als bloßer Erfahrung. Die Idee ist Inhalt der Wissenschaft. Gegenüber der passiv aufgenommenen Wahrnehmung ist die Wissenschaft somit ein Produkt der Tätigkeit des menschlichen Geistes.

Damit haben wir das Erkennen dem künstlerischen Schaffen genähert, das ja auch ein tätiges Hervorbringen des Menschen ist. Zugleich haben wir aber auch die Notwendigkeit herbeigeführt, die gegenseitige Beziehung beider klarzustellen. ...

 

Erkennen und künstlerisches Schaffen

"Gewöhnlich glaubt man, der Inhalt der Wissenschaft sei ein von außen aufgenommener; ja man meint, der Wissenschaft die Objektivität in einem um so höheren Grad wahren zu können, als sich der Geist jeder eigenen Zutat zu dem aufgefaßten Stoff enthält. Unsere Ausführungen haben gezeigt, daß der wahre Inhalt der Wissenschaft überhaupt nicht der wahrgenommene äußere Stoff ist, sondern die im Geiste erfaßte Idee, welche uns tiefer in das Weltgetriebe einführt, als alles Zerlegen und Beobachten der Außenwelt als bloßer Erfahrung. Die Idee ist Inhalt der Wissenschaft. Gegenüber der passiv aufgenommenen Wahrnehmung ist die Wissenschaft somit ein Produkt der Tätigkeit des menschlichen Geistes.

Damit haben wir das Erkennen dem künstlerischen Schaffen genähert, das ja auch ein tätiges Hervorbringen des Menschen ist. Zugleich haben wir aber auch die Notwendigkeit herbeigeführt, die gegenseitige Beziehung beider klarzustellen.

Sowohl die erkennende wie die künstlerische Tätigkeit beruhen darauf, daß der Mensch von der Wirklichkeit als Produkt sich zu ihr als Produzenten erhebt; daß er von dem Geschaffenen zum Schaffen, von der Zufälligkeit zur Notwendigkeit aufsteigt. Indem uns die äußere Wirklichkeit stets nur ein Geschöpf der schaffenden Natur zeigt, erheben wir uns im Geiste zu der Natureinheit, die uns als die Schöpferin erscheint. Jeder Gegenstand der Wirklichkeit stellt uns eine von den unendlichen Möglichkeiten dar, die im Schoße der schaffenden Natur verborgen liegen. Unser Geist erhebt sich zur Anschauung jenes Quelles, in dem alle diese Möglichkeiten enthalten sind. Wissenschaft und Kunst sind nun die Objekte, denen der Mensch einprägt, was ihm diese Anschauung bietet. In der Wissenschaft geschieht es nur in der Form der Idee, das heißt in dem unmittelbar geistigen Medium; in der Kunst in einem sinnenfällig oder geistig wahrnehmbaren Objekte."

(aus Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung mit besonderer Rücksicht auf Schiller, GA 2, Dornach 1979, S. 131f.) 

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Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung mit besonderer Rücksicht auf Schiller, Basel, Rudolf Steiner Verlag, 20229.

Zu dieser seiner frühen Schrift schreibt Rudolf Steiner fast vierzig Jahre nach ihrem Entstehen folgendes: «Indem ich sie heute wieder vor mich hinstelle, erscheint sie mir auch als die erkenntnistheoretische Grundlegung und Rechtfertigung von alle dem, was ich später gesagt und veröffentlicht habe. Sie spricht von einem Weg des Erkennens, das den Weg freilegt von der sinnenfälligen Welt in die geistige hinein.»

Schöpfen aus dem Urquell alles Seins

"Sowohl die erkennende wie die künstlerische Tätigkeit beruhen darauf, daß der Mensch von der Wirklichkeit als Produkt sich zu ihr als Produzenten erhebt; daß er von dem Geschaffenen zum Schaffen, von der Zufälligkeit zur Notwendigkeit aufsteigt. Indem uns die äußere Wirklichkeit stets nur ein Geschöpf der schaffenden Natur zeigt, erheben wir uns im Geiste zu der Natureinheit, die uns als die Schöpferin erscheint. Jeder Gegenstand der Wirklichkeit stellt uns eine von den unendlichen Möglichkeiten dar, die im Schoße der schaffenden Natur verborgen liegen. Unser Geist erhebt sich zur Anschauung jenes Quelles, in dem alle diese Möglichkeiten enthalten sind. Wissenschaft und Kunst sind nun die Objekte, denen der Mensch einprägt, was ihm diese Anschauung bietet. In der Wissenschaft geschieht es nur in der Form der Idee, das heißt in dem unmittelbar geistigen Medium; in der Kunst in einem sinnenfällig oder geistig wahrnehmbaren Objekte. In der Wissenschaft erscheint die Natur als «das alles Einzelne Umfassende» rein ideell; in der Kunst erscheint ein Objekt der Außenwelt dieses Umfassende darstellend. Das Unendliche, das die Wissenschaft im Endlichen sucht und in der Idee darzustellen sucht, prägt die Kunst einem aus der Seinswelt genommenen Stoffe ein. Was in der Wissenschaft als Idee erscheint, ist in der Kunst Bild. Es ist dasselbe Unendliche, das Gegenstand der Wissenschaft wie der Kunst ist, nur daß es dort anders als hier erscheint. Die Art der Darstellung ist eine verschiedene. Goethe tadelte es daher, daß man von einer Idee des Schönen spricht, als ob das Schöne nicht einfach der sinnliche Abglanz der Idee wäre".

aus Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, mit besonderer Rücksicht auf Schiller (1886), GA 2, Abschluss Erkennen und künstlerisches Schaffen.