Sich von den Impulsen des Bienenvolkes leiten lassen
Ein Bienenvolk zählt bis zu 40 000 Bienen. Diese bilden zusammen einen Organismus höherer Ordnung. Schwärmen, natürlicher Wabenbau und volkseigene Königinnenzucht fördern Vitalität und Widerstandskraft der Bienen. Eine Erkenntnis von Rudolf Steiner, die heute aktueller ist denn je.
Ein Bienenvolk wurde immer schon als Einheit, als Ganzes erlebt. Das Geschehen im Bienenstock, das Innere der Bienenwohnung blieb bis vor 200 Jahren verborgen und dadurch geheimnisvoll. Ein Blick in das Innere war aus einem einfachen Grund nicht möglich: Die Bienen bauten ihre Wohnungen stabil, d.h. sie verankerten die Waben an hohlen Baumstämmen oder an den Wänden der Körbe. Um Honig oder Wachs zu gewinnen, musste deshalb die Bienenwohnung zerstört werden.
Ein Blick in das Innere
Das änderte sich im vorletzten Jahrhundert mit der Entwicklung von Bienenwohnungen mit beweglichen Waben. Im so-genannten Mobilbau werden Holzrähmchen in die Bienenstöcke eingehängt, in denen die Völker das Wabenwerk errichten. Die Waben können jederzeit herausgenommen und wieder zurückgehängt werden, ohne sie zu zerstören. Die meisten Erkenntnisse über das Leben und die Biologie der Bienen verdanken wir dieser Erfindung. Sie erlaubt die Bestimmung der unterschiedlichen Entwicklungs- und Lebensdauer von Bienen, Drohnen und Königin. Auf den herausgezogenen Waben konnten Arbeitsbienen nach dem Schlüpfen markiert und ihre streng geregelte Arbeitsbiografie nachvollzogen werden: als Stockbiene putzen, Brut wärmen und füttern, Wachs schwitzen und Waben bauen, den Eingang des Stocks bewachen und am Ende des Lebens als Sammelbiene Nektar, Pollen und Wasser eintragen. Auf den beweglichen Waben konnte der Schwänzeltanz beobachtet und entschlüsselt werden, d.h. der Code, mit dem Sammelbienen ihren Schwestern Ort und Qualität der Nektar- und Pollenquellen anzeigen. Auch die hoch präzise Wärmeregulierung im Bienenstock und insbesondere im Brutnest oder die Entstehung des Wabenwerks konnten erst dank des Mobilbaus entdeckt und beschrieben werden.
Obwohl die grossen Fortschritte der Bienenforschung unsere Kenntnisse enorm erweitert haben, hat der übergeordnete Organismus, der das Geschehen im Bienenvolk leitet, seine Geheimnisse noch nicht alle preisgegeben. Wir verstehen zwar viele Einzelvorgänge und wie sie miteinander verbunden sind, ihre Bedeutung fürs Ganze bleibt in vielen Aspekten noch im Dunkeln.
Die aus diesen Forschungen gewonnenen Kenntnisse haben wesentlich dazu beigetragen, die Bienenhaltung zu rationalisieren und zu perfektionieren. Der Mensch beherrscht und steuert heute das Wesen Bienenvolk so umfassend wie nie zuvor.
Die Wiederentdeckung der Einheit
Die Liebe zu den Bienen verbindet alle Imkerinnen und Imker, unabhängig von der Betriebsweise, denn das geheimnisvolle Geschehen im Bienenvolk fasziniert alle gleichermassen. Rudolf Steiner hat 1923 in einer Reihe von Vorträgen über die Bienen und die Beziehung zwischen Biene und Mensch gesprochen. Als ganzer, einheitlicher Organismus sollten die Bienenvölker sich über den Schwarmtrieb vermehren dürfen, ihr Wabenwerk im Naturbau und ohne Mittelwände, d.h. ohne Wachsplatten mit vorgestanzten Zellen, selber errichten und Königinnen aus dem eigenen Volk nachziehen können. Die naturnahe Bienenhaltung arbeitet mit diesen drei Ur-Impulsen, so auch die Demeter-Imkerei. Es ist der Respekt vor den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Bienen, welche die naturnahe Bienenhaltung auszeichnet. Die moderne Bienenforschung bestätigt, dass die Bienenvölker gestärkt werden, wenn diese Ur-Impulse berücksichtigt werden.
Das Schwärmen als Jungbrunnen
Das Schwärmen wird als Todesprozess des alten Bienenvolkes verstanden, das Behausung, Waben, Brut und alle Vorräte zurücklässt, so wie die menschliche Seele ihren Körper. Gleichzeitig ist es aber auch die Vorbereitung für die Geburt eines neuen Volkes, die genau in dem Augenblick stattfindet, wenn der Schwarm in der Natur eine Höhlung gefunden hat oder vom Imker in eine neue Bienenwohnung einlogiert wird. Die Bienen, die mit der alten Königin ausgeschwärmt sind, um ein neues Volk zu begründen, haben nach 30 Tagen ihren Lebenszyklus beendet. Das Volk hat sich vollständig erneuert – im jungen Volk lebt die alte Königin weiter und legt fleissig ihre Eier in die Waben; sie wird bis zu fünf Jahre alt.
In der Vorbereitung aufs Schwärmen verändert sich die Physiologie des Volkes. Die alte Königin erhält eiweissarmes Futter und hört auf, Eier zu legen. Die Arbeiterinnen füllen ihren Magen mit Honig und aktivieren die Wachsdrüsen. Nach Bezug der neuen Bienenwohnung werden ohne Verzögerung schneeweisse Waben gebaut. Jungvölker wollen bauen! Wer diesen Vorgang beobachten durfte, versteht, dass Waben als Skelett des Bienenvolks bezeichnet werden. Sie werden wie die Knochen beim Säugetier individuell und aus der volkseigenen Substanz herausgebildet.
Im Restvolk, das in der alten Bienenwohnung geblieben ist, reift die junge Königin nach dem Schlüpfen noch einige Tage aus, bevor sie auf ihren Hochzeitsflug geht. Hoch in der Luft, der Sonne entgegen, wird sie von durchschnittlich einem Dutzend Drohnen begattet. Nach der Begattung sterben die Drohnen. Erst nach dem Hochzeitsflug beginnt die Königin Eier zu legen. Sie hat für den Rest ihres Lebens genügend Samenvorräte, um die Eier zu befruchten.
Die Vorteile der Völkervermehrung über den Schwarmtrieb
Wir wissen heute, dass Schwärmen ein Akt der Hygiene und damit der Gesundung ist. Sowohl das zurückgelassene «Restvolk» als auch das einlogierte Jungvolk gehen am Anfang durch eine brutfreie Periode. Im Restvolk kann die junge Königin erst nach dem Hochzeitsflug Eier legen, im jungen Volk müssen zuerst Waben gebaut werden, bevor die Königin Eier legen kann. Weil sich viele Krankheiten in der Bienenbrut vermehren, ist diese Periode für die Hygiene und die Gesundheit der Völker ganz entscheidend.
Das Wabenwerk im Naturbau
Der Bau des Wabenwerks durch die Bienen wird in der Imkerei genutzt, um Völker zu sanieren, die mit Keimen der Sauerbrut oder Faulbrut belastet sind. Wachsschwitzen und Wabenbau machen Bienenvölker gesund.
Bienenköniginnen aus dem eigenen Volk
Der Aufbau neuer Völker mit Königinnen aus eigener Nachzucht und Standbegattung (Hochzeitsflug) statt aus künstlicher Königinnenzucht wirkt sich positiv auf die Gesundheit der Völker aus. Sie leistet zum einen einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung der genetischen Vielfalt. Zum anderen befördert sie mittelfristig über mehrere Generationen die Anpassung der Völker an die spezifischen Umweltbedingungen am jeweiligen Standort. Wie bei allen anderen Lebewesen sind auch hier genetische Variation und Adaptation die Voraussetzung und Garantie für eine erfolgversprechende Evolution. Bienenköniginnen aus eigener Nachzucht sind dazu am besten geeignet. Sie fügen sich harmonisch in die Bedürfnisse, Gesetzmässigkeiten und Intentionen ihres Volkes ein.
Die Haltung entscheidet
Haustiere möglichst artgemäss zu halten, ist heute das Bestreben aller, vom Tierhalter über den Konsumenten bis zu den Behörden. Die Haltung von Kühen, Hühnern und Schweinen ist diesem Ziel schon sehr nahe. Für das Wohl und die nachhaltige Gesundheit der Bienen ist noch einiges zu leisten. Mit einer naturnahen Bienenhaltung sind sicher nicht alle Probleme der Bienen gelöst – Blütenarmut, Pestizide, Monokulturen usw. werden den Völkern weiterhin zusetzen. Doch wenn aus innerer Anteilnahme das Wohl der Bienen gefördert wird, wenn sichergestellt wird, dass die Völker die angeborenen, grundlegenden Verhaltensweisen des Schwärmens, des Naturbaus und der natürlichen Nachzucht von Königinnen ausleben dürfen, ist damit auch ein Beitrag zur nachhaltigen Verbesserung ihrer Gesundheit geleistet.
Dr. Johannes Wirz, Biologe