Wirtschaft
Der Mensch wird immer individueller. Die sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhänge zeigen eine deutliche Entwicklung von allgemein tragenden Regeln zu individuell bestimmten. Seine Bedürfnisse, seine Würde und seine Fähigkeiten sind prägend. Wie kann die Wirtschaft dem Rechnung tragen?
Wo früher Dogmen der Religion, Regeln der Berufsgilden, Tradition oder Autorität der Familie die Richtung und das Wissen für das Handeln vorgaben, bestimmen heute immer mehr die persönlichen Sichtweisen die Taten jedes Einzelnen. Anstelle des «So-wurde-es-immer gemacht» ist das «Ich-will-es-so-haben» getreten.
Dies ist eine der grossen Veränderungen des zwanzigsten Jahrhunderts.
Diese Erkenntnis eröffnet eine neue und wirkungsvolle Perspektive, um den heutigen gesellschaftlichen Aufbruch zu verstehen. Sie bildet die Basis, um die sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhänge jetzt und in Zukunft aktiv zu gestalten. Oder anders formuliert: Die künftigen Formen des Zusammenlebens der Menschen werden nur nachhaltig – und möglicherweise friedvoll – wenn sie grundsätzlich auf die Individualität aufbauen. Wie sieht das konkret aus?
Bedürfnisse, Würde und Fähigkeiten sind zentral.
Jeder Mensch tritt auf drei ganz unterschiedlichen Wegen in Beziehung mit seinen Mitmenschen: über seine Bedürfnisse, über seine Würde und über seine Fähigkeiten. Um seine Bedürfnisse zu befriedigen, braucht er die Erzeugnisse der anderen. Seine Würde erfährt er durch die Art, wie er von seiner sozialen Umgebung behandelt und anerkannt wird. Dabei klingt eine ganz andere Ebene des Menschseins an als bei der Befriedigung der Bedürfnisse. Auf der dritten Ebene, der seiner Fähigkeiten, erlebt sich jeder Mensch als Individualität – und doch verdankt er die Entfaltung seiner Fähigkeiten fast ganz seinen Mitmenschen. Bedürfnisse, Würde und Fähigkeiten sind für jede und jeden Einzelnen Tore zu eigenständigen und unterschiedlichen Welten von Erfahrungen. Soll der zum Individuum gewordene Mensch gesund leben und sich in Gemeinschaft mit den anderen entfalten können, braucht es eine bewusste Gestaltung und Gliederung des sozialen Raumes.
Zur Befriedigung der Bedürfnisse dient die ganze Wirtschaft, der weltweite Kosmos von Produktion, Handel und Konsum. Die Rechtsordnung der verschiedenen Staaten soll den würdigen Umgang der Menschen untereinander sichern und die Würde des Einzelnen garantieren. Länder sind Orte, wo ein gemeinsames Rechtsverständnis gelebt werden kann, wo jeder Mensch durch Mündigkeit zum anerkannten Bürger wird.
Die kulturelle Vielfalt mit ihren verschiedenen Möglichkeiten der Aus- und Weiterbildung dient der Entfaltung der individuellen Fähigkeiten. Erst dadurch wird der Mensch zum Menschen, wird frei und gleichzeitig fähig, bewusst Verantwortung zu tragen. Dies beginnt beim Kleinkind mit der Nachahmung im Tun und Sprechen, geht über zur Lernfreude in der Schulzeit und dann weiter in die Vertiefung der grossen Ideale und Errungenschaften der Menschheit.
Trägt die Gesellschaft in ihrer künftigen Gestaltung diesen drei Bereichen mit ihren ganz unterschiedlichen Gesetzmässigkeiten Rechnung, können die sozialen Wirren, die durch die Individualisierung des Menschen entstehen, überwunden werden.
Schuldenkrise als Folge eines Ungleichgewichts
Die Wirtschaft, so zeigt es sich, ist Glied eines grösseren sozialen Organismus. Da werden alle Vorhaben durch Geldprozesse wahrgenommen, gewertet und ermöglicht. Geld ist aber nicht einfach Geld. Eine nähere Beobachtung lässt ganz unterschiedliche Qualitäten des Geldes erscheinen, je nachdem, ob damit etwas gekauft, es geliehen oder geschenkt wird. Entdeckt man diese Unterschiede, so entsteht auch hier eine wichtige Gliederung, wo vorher nur die Geldmenge bestimmend war.
Der Kaufprozess entsteht dort, wo dem andern eine Geldsumme für ein Produkt übergeben wird. Dieser Kaufprozess kann als gesund betrachtet werden, wenn dadurch allen an der Produktion beteiligten Menschen genügend zukommt, so dass sie ihre Bedürfnisse befriedigen können. Ist das nicht der Fall, so ist der Preis zu niedrig. Und dies hat gravierende Konsequenzen anderswo in der Welt, zum Beispiel Schulden. Viel wird in diesem Jahr von Schulden gesprochen und geschrieben. Schuld und Überschuldung entstehen da, wo nicht genügend bezahlt wird. Schuld ist das Symptom und nicht die Krankheit. Krank ist hier der Kaufprozess.
Vom Leihen und Schenken
Das Leihen entsteht dort, wo eine unternehmerische Idee sich verwirklichen soll. Dort, wo Neues in Gang gebracht werden möchte. Da braucht der Unternehmer Kapital, um in die Produktionsmittel zu investieren. Gesund ist dies, wenn es aus Vertrauen zum Menschen, seinen Fähigkeiten und zur Idee geschieht, und nicht durch irgendwelche andere Sicherheiten wie zum Beispiel Pfandbriefe auf Grund und Boden.
Schenken entsteht dort, wo durch das Vergehen eines Geldwertes Neues, Unerwartetes aufblühen darf. Es ist die produktivste Funktion des Geldes, wirksam wie der wertvolle Kompost, aus welchem durch das Verderben der Stoffe neues Leben erspriesst. Gesund ist das Schenken, wenn Geld freilassend in andere Hände übergeht; krank, wenn das Geben zu eng gefasst wird und zu zielorientiert erfolgt.
Drei Hebel, die greifen: Kaufgeld, Leihgeld, Schenkgeld
Durch diese Gliederung öffnet sich auch der Blick, den wir auf die wirtschaftlichen Prozesse werfen können. Wie wirkt zu wenig Kaufgeld, zu viel Leihgeld, zu wenig Schenkgeld? Was sind die direkten und indirekten Konsequenzen und wie kann man gegensteuern um, wo nötig, zu einem Gleichgewicht zu kommen?Man kann es ahnen: Eine bewusste Handhabung dieser drei Geldarten mit ihren ganz unterschiedlichen wirtschaftlichen Konsequenzen eröffnet eine grossartige Perspektive. Statt nur einen einzigen Hebel in der Hand zu haben – nämlich die Geldmenge – hätte man drei: das Kaufgeld, das Leihgeld und das Schenkgeld. Ein feines, ordnendes Wirken könnte erreicht werden, wo heute ein Chaos nach dem anderen die Wirtschaft durchschüttelt.
Marc Desaules