FondsGoetheanum: Lasst uns Kind sein

Nestwärme und Geborgenheit

Nie wieder sind wir so geborgen und geschützt wie im Mutterleib. Eingebettet im warmen Fruchtwasser, umgeben von den Eihäuten und der alles umschliessenden Gebärmutter wächst ein Kind heran. Es erfährt vorgeburtlich Nähe, Wärme, Begrenzung und eine Art Zeitlosigkeit.

Mit der Geburt verlässt der kleine Mensch diese natürliche Umhüllung und ist der grossen Welt ungeschützt ausgesetzt. Jetzt sind die Eltern gefragt, ihm seine verloren gegangenen Hüllen zu ersetzen, ihm sein Nest zu bauen. Doch das braucht Zeit für alle Beteiligten. Geboren zu werden, ist wie ein Umzug in ein neues Zuhause: Es dauert, bis man sich eingerichtet hat und alles am richtigen Platz ist. Über Wochen ist man damit beschäftigt, sein Haus einzurichten, bis dann langsam die äussere Umgebung erkundet wird.

FondsGoetheanum: Lasst uns Kind sein
Liebe, Geborgenheit und Schutz erfahren.

Das kleine Kind benötigt ebenso Zeit, um sich in seinen neuen Verhältnissen zurechtzufinden und in seinem Körper zu beheimaten. Dazu braucht es unsere Hilfe, damit es sich warm und geborgen fühlen kann. Gerade am Lebensanfang verliert es besonders über seine noch offene Fontanelle viel Eigenwärme. Daher fühlt es sich mit wärmender Kleidung und einem kleinen Mützchen auf dem Kopf geschützt und gewärmt, ähnlich einem Küken, das fast ganz unter der Henne sitzt. Denn nur in der Wärme kann ein Lebewesen wachsen und gedeihen.

Vertrauen aufbauen

Immer wieder braucht das kleine Kind die körperliche Nähe und seelische Wärme der Eltern und erlebt so Geborgenheit und Schutz. Es findet Sicherheit in den immer wiederkehrenden Antlitzen der Mutter und des Vaters und der ihm vertraut werdenden Menschen. So gewöhnt es sich langsam an einen Rhythmus von Tag und Nacht. Es erfährt über beständige Zuwendung und Tätigkeiten seiner Bezugspersonen Sicherheit und Geborgenheit: bei seiner Körperpflege, beim Essen-kochen, bei den regelmässigen Mahlzeiten, dem Hausputz und dem Spazierengehen.

Beginnt das kleine Kind seine Umgebung zu entdecken und den Raum um sich herum zu erobern, können wir beobachten, dass es bei jedem Schritt von uns weg sich zwischendurch vergewissern muss, ob wir noch da sind. Wird der Radius zu gross, dann sind es immer wieder die Arme oder der Schoss, nach dem verlangt wird. Auch in die Umgebung muss das kleine Kind langsam hineinwachsen. War es im Mutterleib immer die natürliche Begrenzung, so sind es jetzt von uns gesetzte Grenzen, wie ein Laufgitter, ein Türgitter im Haus oder eine schützende, haltende Hand auf der Strasse, die dem Kind ein Gefühl des Sich-selbst-Spürens geben. Aber auch ein liebevollbestimmtes Nein bringt es wieder zu sich zurück.

In Liebe Grenzen setzen

Kinder müssen und dürfen die Welt entdecken, aber sie müssen nicht unentwegt auf Entdeckungsreise sein, sondern benötigen auch einen geschützten Rahmen und ein Bei-sich-Sein. Erlebt ein Kind in den ersten Lebensjahren diese liebevoll gesetzten, selbstverständlichen Grenzen, so ist in der Erziehung ein Meilenstein für Vertrauen und Selbstsicherheit für das spätere Leben gelegt.


Monika Kiel-Hinrichsen
Sozial- und Waldorfpädagogin

Monika Kiel-Hinrichsen: Warum Kinder trotzen. Urachhaus, 2013.