Adèle Thorens Goumaz hat Philosophie und Politologie studiert. Sie war von 2007 bis 2019 Nationalrätin und von 2019 bis 2023 Ständerätin. Ihre bevorzugten Dossiers sind Kreislaufwirtschaft, Klimapolitik und Erhaltung der Biodiversität. Sie setzt sich stark für eine nachhaltige Landwirtschaft ein. Neben ihren politischen Aktivitäten ist Adèle Thorens Goumaz unter anderem Präsidentin des Verwaltungsrats der bio.inspecta in Frick. Ende 2023 wird sie ihre politische Karriere beenden. Sie wurde zur assoziierten Professorin an der Haute École d’Ingénierie et de Gestion du Canton de Vaud (HEIG-VD) ernannt und wird dort ab 2024 Politik und Ethik dozieren.
Ernährungspolitik statt Agrarpolitik
In den letzten Jahren hat die Landwirtschaft stark an politischer Bedeutung gewonnen und leidenschaftliche, emotionale Debatten ausgelöst. Man braucht sich nur die Liste der aktuellen Volksinitiativen anzuschauen. Die Landwirtschaft allein löst die Probleme nicht. Unsere Autorin fordert deshalb einen Wechsel zur Ernährungspolitik, die alle Akteure – Landwirtschaft, Verarbeitung, Handel sowie Verbraucherinnen und Verbraucher – umfasst.
Die Liste der Landwirtschaftsinitiativen ist eindrücklich: Initiative für Ernährungssicherheit, Initiative für Ernährungssouveränität, Fair-Food-Initiative, Initiative für sauberes Trinkwasser und gesunde Nahrung, Initiative für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide, Initiative für die Würde der landwirtschaftlichen Nutztiere (Hornkuh-Initiative), Initiative «Keine Massentierhaltung in der Schweiz». Noch dazu wurde gerade eine neue Initiative zur Förderung der pflanzlichen Erzeugung ins Leben gerufen. Aber auch im Parlament sind die Debatten hitzig, wie die Diskussion zur Agrarpolitik ab 2022 (AP22+) gezeigt hat.
Ernährungssicherheit im Fokus
Im Kern dieser Debatten geht es um unsere Beziehung zu den Tieren. Dazu ist zu sagen, dass mehr als 70 % unserer landwirtschaftlichen Flächen dem Anbau von Futtermitteln für Tiere dienen, die wir essen. Zusätzlich importieren wir auch noch jedes Jahr mehr als eine Million Tonnen Futter. Es geht also nicht nur um das Wohlergehen der Tiere oder die Auswirkungen auf das Klima: Unsere Ernährungssicherheit steht auf dem Spiel. Es ist zwar richtig, dass wir in der Politik ausführlich über diese Themen debattieren, aber den Diskussionen würde es guttun, wenn sie sachlicher geführt würden.
Ja, die Viehhaltung hat Einfluss auf das Klima und die Artenvielfalt. Ja, die negativen Einflüsse müssen reduziert werden. Ja, die Produktion von zu viel Fleisch in der Schweiz gefährdet unsere Ernährungssicherheit und macht uns abhängig von Importen. Ja, die Intensivtierhaltung ist nicht vertretbar, denn sie schadet dem Wohlergehen der Tiere.
Weiden sind ein wertvoller Schatz
Eine Tierhaltung, die Umwelt und Tiere respektiert, ist in unserem Land jedoch möglich und machbar. Wir haben Weideland, Grasland, das es verdient, beachtet und aufgewertet zu werden; unsere Esskultur basiert zum Teil auf diesen Erzeugnissen tierischen Ursprungs.
Von der Agrarpolitik zur Ernährungspolitik
In den letzten Jahren ist mir aufgefallen, wie sich die politische Debatte auf die landwirtschaftliche Produktion verengt hat. Sie negiert häufig die Rolle der anderen Akteure in der Wertschöpfungskette und stigmatisiert ungerechtfertigterweise die Landwirtinnen und Landwirte. Die Verarbeitungs- und Handelsebene wird in dieser Problematik wenig berücksichtigt. Und man gewinnt den Eindruck, als ob die Verbraucherinnen und Verbraucher keine Verantwortung hätten.
In Europa entwickelt sich die Agrarpolitik weiter zur Ernährungspolitik. Sie bezieht alle Akteure mit ein, von der Produktion bis zum Verbrauch, vom Bauernhof bis zur Gabel. Denn alles ist miteinander verbunden: Die Exzesse der Tierproduktion sind ein Spiegel der Gier der Verbraucherinnen und Verbraucher nach Fleisch. In den letzten Jahren ist der Fleischkonsum förmlich explodiert und hat Mengen erreicht, die für Gesundheit und Umwelt gleichermassen problematisch sind. Es braucht eine sachlichere, konstruktivere politische Debatte, die alle Akteure im Ernährungsbereich mit einbezieht. Landwirtinnen und Landwirte können die Umweltprobleme und insbesondere die Probleme im Zusammenhang mit der Tierproduktion nicht allein lösen.
Weniger Fleischkonsum
Nur eine Verringerung des Fleischkonsums ermöglicht eine qualitativ hochwertige Tierhaltung. Sie ist Voraussetzung für den Schutz und den respektvollen Umgang mit den Tieren, dem Klima und den natürlichen Ressourcen. Die biologische Landwirtschaft verlangt von den Landwirtinnen und Landwirten, die Grösse ihres Viehbestands auszurichten auf das, was sie lokal zur Fütterung ihrer Tiere erzeugen können. Sie weist den Weg hin zu einem besseren Gleichgewicht. Aber damit sich solche Lösungen durchsetzen können, muss jeder seinen Teil beitragen, die Akteure in der Verarbeitung, im Handel sowie die Verbraucherinnen und Verbraucher gleichermassen.
Adèle Thorens Goumaz, Ständerätin