Aktuell – Oktober 2010
Kunst macht gesund
Künstlerische Therapieformen zeigen positive medizinische Wirkungen. Der dazu notwendigen Forschung mangelt es an Mitteln.
Dr. med. Michaela Glöckler, Leiterin der Medizinischen Sektion am Goetheanum
Kunst hat im Therapeutischen zwei deutlich zu unterscheidende Wirkprinzipien: ein unspezifisches, «allgemein» aufbauendes und das Immunsystem stärkendes und ein spezifisches. So wie einzelne Farben, Töne, Akkorde, Sprachlaute, Bewegungsmuster und Formen spezifisch wirken, z.B. die Farben rot oder grün, blau oder gelb, Konsonanzen oder Dissonanzen, so bewirkt der ästhetische unspezifische Zusammenhang eines Kunstwerkes eine entsprechend komplexe, harmonisierende Anregung oder Beruhigung. Auch die dialogische Therapie – insbesondere mit den Mitteln von Gesang, Sprache, Instrumentalmusik – bedient sich dieser beiden Therapieansätze. Rudolf Steiner hat zudem im Kontext seiner menschenkundlichen Forschung hochinteressante Einzelwirkungen und Beziehungen der Kunstmittel zu einzelnen Organfunktionen und zu konstitutionellen Gegebenheiten festgestellt, die wesentlichste Anregungen geben für Indikation und Einsatz der Künstlerischen Therapien. Insbesondere in der Traumatherapie, bei Entwicklungskrisen, im Fall von Schulschwierigkeiten, bei Lernstörungen, aber auch bei kinderpsychiatrischen Krankheitsbildern wie Depression, Pubertätsmagersucht, Morbus Crohn kann gerade die Therapie mit künstlerischen Mitteln die gesunden Anteile der Persönlichkeit so stärken, dass die Therapie bei Kindern und Jugendlichen die schulische Integration oder im Alter die Lebensqualität deutlich fördert.
Forschung tut not
So sehr die positiven Wirkungen dieser künstlerischen Therapieformen tägliche Erfahrung dankbarer Patienten ist – so nötig wäre es, deren so offensichtliche Wirkung unter Beweis zu stellen und in Studien zu dokumentieren. Dies jedoch scheitert in erster Linie an den fehlenden finanziellen Ressourcen. Denn immer mehr Therapeuten wären bereit, sich dieser Forschungsaufgaben zu stellen, wenn der damit verbundene Praxisausfall kompensiert werden könnte. Ohne überzeugende Forschungs ergebnisse jedoch können sich diese noch jungen Therapieformen nicht seriös weiterentwickeln und behaupten – und mit ihnen die Anthroposophische Medizin.
Der Fluss des Lebens
Immer mehr Menschen erreichen ein zunehmend höheres Alter. Sie haben die Möglichkeit, das Reifen auf den Tod hin bewusst zu durchleben.
Dr. med. Björn Riggenbach, Neuchâtel, Praxis für Allgemeinmedizin FMH/Anthroposophi- sche Medizin
Wenden wir den Blick zurück und fragen uns, wie alt denn die Menschen in Mitteleuropa vor 150 Jahren wurden. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag bei 40 Jahren. Die Kinder starben oft früh, oft die Mütter mit ihnen. Nur wenige erreichten ein höheres Alter. Sie gehörten in der Regel zu den Wohlhabenden der Gesellschaft. Wenn man die Statistik betrachtet, ist es noch heute so: Wer ärmer ist, stirbt jünger.
Früher alterten die Menschen jünger
Doch die Definition des Alters hat sich geändert. In früheren Zeiten alterten die Menschen jünger. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist heute1 für Frauen 84,4 Jahre und für Männer 79,8 Jahre, und wir sprechen von den «jungen» und «alten Alten». Die französische Sprache formuliert es eleganter mit «le troisième et le quatrième âge». Damit die Altersrenten für die Gesellschaft bezahlbar bleiben, geistert die politische Forderung durch das Land, das Rentenalter auf 67 Jahre zu erhöhen.
Wann beginnt das Altern, und was geschieht beim Altern?
Mit zunehmendem Alter vermehren sich oft die Beschwerden. Ist Alter eine Krankheit? Alt und krank werden oft im gleichen Satz ausgesprochen. Doch beginnt das Altern schon mit der Geburt: Der Mensch wird vom ersten Tag an älter. Unausweichlich stehen die Kräfte der Jugend, des Wachstums und Aufbaus jenen des Abbaus, des Alterns gegenüber. Es ist ein fliessendes Gleichgewicht, das sich während des Lebens langsam verschiebt, immer mehr hin zu den Kräften des Todes – der Geistgeburt entgegen. Dies zeigt sich im menschlichen Körper in vielfacher Weise, zum Beispiel in der Atmung. So wie jedes Atemeinziehen verjüngt, so stirbt der Mensch bei jeder Ausatmung ein wenig aus sich hinaus. Charakteristisch schildert es Goethe in seinem Gedicht:
«Im Atemholen sind zweierlei Gnaden: die Luft einziehen, sich ihrer entladen, jenes belebt, dieses erfrischt; so wunderbar ist das Leben gemischt. Du danke Gott, wenn er dich presst, und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt.»2
Zwei Ströme: Jugendkräfte und Abbau
Unmittelbar neben der Lunge liegt das Herz. Auch in ihm wirken diese beiden Kräfte. Vom Blut getrieben, empfängt es dieses zugleich, und entlässt es wieder, sich füllend und leerend wie bewegliche Schaufeln eines Wasserrades. Dabei nimmt es vieles wahr, zum Beispiel die Verjüngung des Blutes durch den Sauerstoff oder aber das venöse, kohlenstoffreiche, das «verbrauchte» oder «gealterte» Blut. Es kommt zurück aus dem Organismus und berichtet dem Herzen von allem, was es während seines Strömens erlebt und erfahren hat, auch von seelischen Ereignissen. Es ist, als seien im Menschen gleichzeitig ein noch junger Fluss, frisch aus Quellen entspringend, und ein alter Strom, nahe der Meeresmündung, reich an Erfahrung und Wissen. Goethe hat auch dies wunderbar formuliert: «Des Menschen Seele gleicht dem Wasser: Vom Himmel kommt es, zum Himmel steigt es, und wieder nieder zur Erde muss es, ewig wechselnd.»3 Ewig wechselnd scheinen Lebens- und Todesprozesse, Jugend und Alter. Sie begleiten uns nicht nur jeden Tag, sondern in jeder Sekunde durch das ganze Leben hindurch, und nie sind wir von ihnen verlassen, ungeachtet dessen, ob wir ihrer bewusst sind.
Leben und Bewusstsein sind gegensätzliche Pole
Wo viel Leben ist, herrscht wenig Bewusstsein – wir kennen das von der Hochsommerzeit, in der es schwierig werden kann, sich wie im Winter zu konzentrieren. Wo viel Bewusstsein herrscht, überwiegt der Abbau – wir kennen das nach einem anstrengenden Tag, wenn wir uns nach dem Schlaf sehnen. Die unbewusste Zeit im Schlaf ermöglicht den Lebenskräften, den Körper jeweils so stark zu verjüngen, dass wir morgens wieder frisch den Lebensaufgaben begegnen können. Je älter wir werden, umso klarer treten uns diese ins Bewusstsein. Sie können als Ausgangslage für nachfolgende Erdenzeiten dienen, so wie die Samen in ausgereiften Früchten.
Alt und krank
Was aber, wenn im Alter das menschliche, klar orientierte Bewusstsein erlischt, wenn wir werden wie die Kinder? Es ist bekannt, dass dies jeden treffen kann. Die Gründe sind immer noch Gegenstand der Forschung. Doch können durch den Verlust des Denkens Gefühle Raum erhalten, die oft durch Jahre hindurch nicht mehr zum Ausdruck kamen. Oft werden auch Bedürfnisse hinfällig, die zentrale Motive des Lebens waren, als nähmen diese Menschen Aspekte voraus, die erst im Leben nach dem Sterben von Bedeutung sind. Dank der höheren Lebenserwartung haben heute viel mehr Menschen die Möglichkeit, dieses Reifen auf den Tod hin bewusst durchzuleben.
Anmerkungen:
1) Bundesamt für Statistik (CH), Zahlen für 2009
2) Der west-östliche Divan; Buch des Sängers, Talismane
3) aus «Gesang der Geister über den Wassern»