FondsGoetheanum: Mensch sein

Offene Sinne für Natur und Kunst

Mit allen Sinnen die Natur wahrnehmen. Vogelsang als Lebenselixier. © getty images/Moment/Gary Chalker

Kunst und Natur unmittelbar erleben, kann zu einer Quelle des Lebens und der Gesundheit werden. Sich mit offenen Sinnen darauf einlassen, lehrt uns Neues und bringt uns Ruhe in der Hektik des Alltags. Eigene Erlebnisse gehören immer noch zum Wertvollsten auf unserem Lebensweg. Sie bereichern und beglücken.

Tagtäglich begegnen wir der Natur. Sehe ich denn die Blüte am Weg, höre ich den Gesang der Amsel mitten im geschäftigen Treiben der Einkaufsstrassen? Natur kommt der Sehnsucht vieler Menschen entgegen. In einer jüngst veröffentlichten, europaweiten Studie zu den Bedingungen für die Wahl des Wohnortes steht der Vogelgesang ganz obenan. Er wird als Mass für eine gesunde Natur betrachtet.

Mit allen Sinnen dabei

Jeder Singvogel erhebt sich in seine Region, die ihn zum Singen inspiriert: die Amsel auf dem Dachfirst, die Lerche hoch im Himmel, die Mönchsgrasmücke im Gestrüpp. Jede Vogelart bringt sich durch ihr Federkleid, durch ihre Laute, ihre Gestalt und ihr Verhalten zur Darstellung.
Was nehme ich davon wirklich wahr? Ist der gerade gehörte Laut ruf- oder gesangartig, plaudernd oder jubilierend? Welch ein Geschenk, dass ich an diesen täglichen Festen mit meinen Wahrnehmungen und Empfindungen, meinem Staunen und meiner Freude mit allen Sinnen teilnehmen kann; dass ich das Erwachen des Tages mit seinen vielfältigen, frischen Gerüchen, mit den in den ersten Sonnenstrahlen leuchtenden Farben und Formen und erwärmenden Tönen miterleben und daraus neue Ideen, Inspirationen schöpfen kann.
Mit unserem Leib sind wir ein Teil der Natur. Und doch fällt es uns oft schwer, ihre Erscheinungen und ihre Schönheiten wahrzunehmen, mehr noch, innerlich Anteil zu nehmen.
Die Sinne anzuregen, braucht Aufmerksamkeit, Zeit und Hingabe – und oft die Hilfe eines Menschen mit offenen Sinnen. Was uns in der Natur vielleicht noch schwerfällt, kann möglicherweise durch die Kunst gelingen, wenn auch hier nicht von allein. Als Anregung eine berührende Begegnung zweier Menschen: Der Schriftsteller Jerome Weidman erzählte von seiner zufälligen, schicksalsmässigen Begegnung mit Albert Einstein, in der sein Leben eine aussergewöhnliche Lektion erfuhr und einen entscheidenden Ruck bekam.

Wie Einstein einem jungen Mann eine neue Tür öffnete

Im Haus eines Freundes in New York gab es nach dem Abendessen ein Hauskonzert. Nach dem ersten Beifall für das Streichquartett sprach ihn sein zufälliger Sitznachbar Albert Einstein an, und Jerome Weidman gestand ihm, dass er noch nie etwas von Bach gehört habe, dass er kein musikalisches Gehör habe.
Einstein glaubte seinem Konzert-Nachbarn nicht. Darauf verliess Einstein mit ihm die Gesellschaft und führte ihn in ein Zimmer im ersten Stock. «Wollen Sie mir jetzt bitte sagen, seit wann Ihnen das so geht mit der Musik?» Weidman gestand: «Mein ganzes Leben lang. Ich mag Songs, die einen Text haben und eine Melodie zum Mitsummen. Zum Beispiel Bing Crosby.»
Einstein legte eine Schallplatte auf und schlug mit der Pfeife den Takt. Nach den ersten Versen stellte er das Grammophon ab und bat ihn, etwas dazu zu sagen. Am einfachsten schien Weidman, ein paar Verse von «Wenn das Blau der Nacht und das Gold des Tages sich begegnen» recht und schlecht nachzusingen. Einstein meinte dann: «Aber Sie haben ja Gehör!» Weidman winkte ab und murmelte, dass es eines seiner Lieblingslieder sei, das er schon hundertmal gehört habe.
«Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Rechenstunde in der Schule?», fragte Einstein. «Stellen Sie sich vor, Ihr Lehrer hätte Ihnen bei dieser ersten Begegnung mit Zahlen gleich ein Divisionsbeispiel oder eine Bruchrechnung aufgegeben – hätten Sie das denn gekonnt? Wegen dieses einen Fehlgriffs Ihres Lehrers wäre Ihnen vielleicht Ihr ganzes Leben lang die Schönheit dieser Rechnungsarten verschlossen geblieben. Aber niemand wird am ersten Schultag so eine Torheit begehen. Dieser hübsche kleine Song von Bing Crosby ist sozusagen die einfache Addition und Subtraktion. Die beherrschen Sie schon. Jetzt wollen wir zu etwas Schwierigerem übergehen.» Einstein spielte nacheinander verschiedene Platten an und Weidman musste das Gehörte nachsingen. Nach Caruso spielte er schliesslich auch Musik ohne Worte ab, und auch diese bat er nachzusummen. Weidman fühlte sich ganz davon beflügelt, wie dieser Mann so hingegeben war, an das, was sie hier zusammen trieben, als wäre Weidman das Einzige auf der Welt, was ihn interessierte.

Vom Wert der eigenen Erfahrung

Dann stellte Einstein das Grammophon plötzlich ab: «So, junger Mann, jetzt sind wir bereit für Bach!», und sie kehrten an ihre Plätze zurück. «Hören Sie nur ganz einfach zu», flüsterte Einstein seinem Nachbarn zu, «das ist alles.» Doch Weidman war überzeugt, dass er ohne das Zusammensein mit Einstein niemals Bachs «Schafe können sicher weiden» so gehört und genossen hätte wie an jenem Abend.
Erstaunlich bei dieser spontanen Lektion mit Einstein ist, dass kaum gelehrt wird. Dafür wird schrittweise eine Hörwahrnehmungsreihe angeboten. Im Weiteren wird auch über die Wahrnehmungen kaum geredet. Es wird versucht, das Gehörte wieder mit der eigenen Stimme selbst hervorzubringen und es in der eignen Stimme von Neuem zu hören und im Hervorbringen zu erleben. Ausserdem wird dies von der Begleitung mitgehört, die Intensität des Zuhörens wird mitwahrgenommen.
Einstein glaubte Weidman nicht und schenkte ihm das Vertrauen und die Zuversicht, dass er ein musikalisches Gehör habe, und liess es ihn selber entdecken. Ebenso erstaunlich ist der Ablauf mit dem Wechsel der Ereignisorte. Die beiden Männer scheren aus einem hochkarätigen Live-Konzert aus, geben sich der Konservenmusik von Bing Crosby bis Caruso hin, kehren nach kurzer Zeit wieder zusammen ins laufende Konzert zurück und erleben in einer gesteigerten seelischen Wahrnehmung die Schlussdarbietung der Streicher.

Ins Reich der Schönheit entführt

Ununterbrochen durchgehend sind die Begegnung der beiden Menschen und ihre intensive Zuwendung zueinander und zu allem übrigen, was sich ereignet. Einstein und Weidman sind eine kleine Gruppe, sie wirken kreativ zusammen, sind beide ganz aufmerksam, gehen aufeinander ein, und dies, ohne sich zuvor verabredet zu haben. Nicht unbedeutend ist der Umstand, dass Weidman still und vorbereitet unter Menschen mithören konnte, die diesen Sinn schon hatten.
Als das Quartett geendet hatte und der Beifall verklungen war, kam die Dame des Hauses auf Einstein zu und bedauerte, dass ihm so viel vom Programm entgangen sei. «Ich bedaure es auch sehr», sagte Einstein, «aber mein junger Freund und ich waren damit beschäftigt, das Höchste zu tun, was der Mensch vermag.» Die Dame machte ein erstauntes Gesicht: «Wirklich? Und das wäre?» Einstein legte den Arm um Weidmans Schultern: «Wieder eine weitere Tür zum Reich der Schönheit aufzustossen.»

______________

Rudi Bind, Schriftsteller, im Austausch mit Hans-Christian Zehnter, Biologe, Autor des Buches Warum singen Vögel?