Den Therapiebogen weiter spannen
Die Therapiekräfte der Mistel im Verbund mit begleitenden weichen Therapien können nachhaltig eine Wende zum Besseren bewirken. Eine Übersicht.
Die Krebsheilkunde hat eine dynamische Entwicklung genommen: Beim Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert ist die radikale Operation dieser seit mehreren Jahrtausenden bekannten Krankheit eingesetzt worden. Natürlich bemerkte man, dass die Krankheit eines Gesamtorganismus oftmals nicht durch das Entfernen ihrer Tumormanifestation allein zu heilen ist. Allerdings gilt auch heute noch, dass die Chirurgie bei vielen Tumoren den wesentlichen Therapiebeitrag liefert.
Den Krebs hemmen allein genügt oft nicht
Mit den Chemotherapeutika beeinflussen wir nun nicht die physische Manifestation der Erkrankung, sondern ihr entfesseltes Wachstum. «Zellgifte» werden eingesetzt, um hier eine Begrenzung des krankhaften Wachstums zu erreichen. Manche Erfolge sind hierdurch zu erreichen, insbesondere bei Kindern, zum Teil durch belastende Nebenwirkungen erkauft. Aber auch hier gilt: Der Krebs ist nicht allein durch die Hemmung seines Wachstums zu besiegen, bei vielen Krebsarten sind nur sehr geringe Prognoseverbesserungen zu erreichen. Allerdings gibt es auch Ausnahmen, in denen die Chemotherapie sogar lebensrettend sein kann. Hierzu zählen einige kindliche Krebserkrankungen, die Hodentumore und auch viele Formen des Lymphdrüsenkrebses. Viele der häufigen Krebsarten sind aber leider dadurch nicht heilbar geworden.
Die Suche ist weitergegangen: Nun sind es ganz andere Arzneimittel, die nicht mehr nur das Wachstum hemmen, sondern die Regulation des Wachstums und auch entzündlich-immunologische Prozesse beeinflussen. Zahlreiche antikörperbasierte Therapien und auch die Checkpoint-Therapien sind entwickelt worden. Sie haben einen anderen Ansatzpunkt: Die Krebsgeschwulst hat sich in ihrem Wachstum und ihren Eigenschaften vom Organismus und seinen Gestaltungskräften gelöst. Der Tumor ist gewissermassen blind geworden für das integrierende System des lebendigen Organismus und entfaltet sein eigenes Leben. Hier können wir nun die selbständig gewordenen Wachstumsprozesse durch antikörperbasierte Therapien beeinflussen. Eine grosse Frage aber bleibt: Wie können wir den Menschen unterstützen, dieses bösartige Gewebe wieder als etwas «Fremdes» zu erkennen und eine intensive Entzündung gegen diesen Fremdkörper als Organismus im Organismus zu entwickeln?
Entfesselte Gewebebildung in den Griff bekommen
Schon lange ist bekannt, dass das Fieber und die Entzündung den Krebs überwinden können. Der amerikanische Chirurg Coley hat bereits um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auf diese Weise Patienten behandelt und erstaunliche Erfolge erzielt. Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, weist darauf hin, dass es einer Wärme- und Fieberentwicklung bedarf, um diese Erkrankung, die sich demzufolge wie eine «Kältekrankheit» ausnimmt, zu überwinden. Einige der modernen Arzneimittel gehen entsprechend mit einer manchmal eindrucksvollen Entzündung und Fieberentwicklung einher, die der erfahrenen ärztlichen Kontrolle bedürfen. Die Entzündung kann nun Fremdes erkennen und es gegebenenfalls auch «überwinden», allerdings bleibt noch eine grosse Herausforderung: Wie wird dieses Fremdgewebe nicht nur entzündlich überwunden, sondern wie bekommt der Mensch die entfesselte
Gewebebildung, die manchmal mehrere Kilogramm Gewicht erreichen kann, wieder in den Griff?
Schliesslich bedarf es auch einer Behandlung dieser «Katastrophe der Form», wie es manchmal ausgedrückt wird. Hier braucht es eine neue Gestaltung und Differenzierung, denn der Tumor zerstört die individuelle menschliche Gestalt. Er wird auch deswegen als «bösartig» erlebt und macht Angst, weil er den Menschen existenziell bedroht.
Was kann hier die Anthroposophische Medizin leisten? Interessanterweise umfasst die Mistel den geschilderten Bogen der zwischenzeitlich entwickelten Therapien: Sie kann eindeutig zellabtötend wirken. Man könnte aus ihr sogar ein Chemotherapeutikum entwickeln. Auf der anderen Seite verstärkt sie aber auch die Entzündung, die den Krebs überwinden soll.
Wir können durch die Misteltherapie ein therapeutisch erwünschtes und unter Umständen auch sehr hohes Fieber erzeugen. Mit der Mistel vereinen sich die wachstumshemmenden und die immunologisch wirksamen Therapiemöglichkeiten. Sie ist tatsächlich eine Heilpflanze, die sich umfassend der Krebserkrankung als therapeutische Antwort gegenüberstellt. Nach der aktiven, fieberhaften Phase der Misteltherapie folgt eine regenerative: Der Patient erholt sich, der Appetit wird besser, die seelische Stimmung hellt sich auf und neue Mutkräfte und Möglichkeiten der Selbstwirksamkeit entstehen.
Zauberwort Wachstum
Aber bringt die Mistel auch etwas für die Prognose? Seit der Studie zum Zauchspeicheldrüsenkrebs (Seite 3) wissen wir, dass die Misteltherapie bei dieser Erkrankung lebensverlängernd wirkt. Viele zurückliegende Studien und zahlreiche Patientenerfahrungen aus der ärztlichen Tätigkeit haben schon immer diese Einschätzung ergeben, nun existieren die ersten grossen Studien, die das bestätigen.
Anthroposophische Medizin in der Krebsheilkunde umfasst allerdings mehr als die Misteltherapie. Es gehören die pflegetherapeutischen Anwendungen, die körperorientierten Therapieverfahren wie z. B. die Rhythmische Massage, die Eurythmietherapie, Kunsttherapie und natürlich auch die psychoonkologische Gesprächstherapie zu ihrem integrativen Behandlungsansatz.
Die Misteltherapie mit weiteren Therapien kombinieren
Heute ist bekannt, dass diese «weichen» Therapien eine grosse Bedeutung haben: Erst kürzlich konnte dokumentiert werden, dass Lungenkrebspatienten mit Depression eine schlechtere Prognose haben als solche ohne diese seelische Erkrankung. Darüber hinaus ist deutlich geworden, dass sich die Prognose bessert, wenn die Depression wiederum verschwindet. Wir müssen nicht nur den Körper behandeln und seine Lebensprozesse unterstützen, sondern auch Therapien für das seelische und das geistige Wesen des Pwatienten.
Aus diesem Grunde hat die anthroposophische Onkologie und Krebsheilkunde einen multimodalen Ansatz, der unterschiedliche Therapien zusammenführt und dadurch den Patienten in seinem leiblichen, seelischen und geistigen Wesen berücksichtigt.
Dr. med. Matthias Girke
Das Geheimnis liegt in der Vielfalt
Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die lange verborgen gebliebene toxische Wirkung der Mistel näher untersucht. Die experimentelle, analytische Wissenschaft fand schliesslich zwei Gruppen von toxischen Eiweissverbindungen: Viscotoxine und Mistellektine. Sie können das schnelle Wachstum von Tumorzellen hemmen. Gleichzeitig aktivieren und modulieren sie das Immunsystem. Sie gelten heute als wichtigste «Wirksubstanzen» der Mistel.
Daneben wurde eine Vielzahl weiterer pharmakologisch aktiver Substanzen mit potenziell antitumoraler Wirksamkeit in der Mistel entdeckt. Ein Teil der experimentell nachgewiesenen antitumoralen Wirkung kann z. B. auf Zuckerverbindungen (Polysaccharide) zurückgeführt werden. Starke immunstimulierende Effekte scheinen damit verbunden zu sein.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen die fettlöslichen Substanzen der Mistel, die nicht in einen gewöhnlichen wässrigen Extrakt übergehen. Schon in der Antike wurde der Fettanteil aus der Mistel isoliert und als Vogelleim benutzt. In dieser äusserst klebrigen Leimsubstanz wurden Harzbestandteile identifiziert: gleich sieben verschiedene Triterpene sowie Steroidverbindungen.
Antitumorale Aktivitäten einzelner dieser Verbindungen in Form von Reinsubstanzen sind in vorklinischen Experimenten gut untersucht. Erste Behandlungen von Patienten mit einer Salbe auf der Grundlage dieser Harzsubstanz der Mistel ergaben vielversprechende Resultate beim sog. «weissen Hautkrebs».
Sämtliche Versuche, Reinsubstanzen aus der Mistel in die Krebstherapie einzuführen, sind gescheitert und zeigen die Überlegenheit der Gesamtextrakte. Die mistelgeprägte Vielfalt von wirksamen Substanzen bleibt Grundlage der therapeutischen Wirkung beim Krebspatienten.
Dr. sc. nat. Konrad Urech