FondsGoetheanum: Pädagogik

Aktuell - Oktober 2010

Gute Erziehung – reiches Leben

Was ist eine gute Erziehung? Woran misst sie sich? Woran orientiert sie sich? Antworten aus anthroposophischer Sicht.

FondsGoetheanum: Pädagogik und Kleinkinderziehung
Wurzeln und Flügel fürs spätere Leben. Fotograf: Aljoscha Thomas

Bin ich eine gute Mutter? Bin ich ein guter Vater? Die Frage ist schmerzhaft, aber unver­meidlich. Nur: Woran messe ich, ob ich «gut» bin als Mutter oder Vater?Messe ich es daran, ob und wie weit es mir gelingt, die Ratschläge umzusetzen, die mich aus Büchern und Zeitschriften, von Freunden, Bekannten, Verwandten her förmlich überfallen? Oder daran, dass es mir gelingt, mich dagegen abzugrenzen und meinem eigenen Wahr­nehmen, Empfinden und Nach­denken zu vertrauen und treu zu bleiben?

Messe ich den Erfolg der Erziehung am «Output», dem Ergebnis, daran, wie gut das Kind «geraten» ist – oder wie erfolgreich es im Leben steht?

Wer aber weiss heute schon, was morgen erfolgreich ist? Der Heilpädagoge und Autor Henning Köhler spricht vom «Drama des folgsamen Kindes»: Ein «wohl erzogenes», gut angepasstes Kind, das sich in der Pubertät nicht zu rebellieren traut, nach Köhler ist es schlecht vorbereitet auf ein Leben, das heute immer weniger gradlinig verläuft. Der scheinbar erfolgreiche Jungunternehmer mit teurem Auto, Kind und schicker Lebensabschnittspartnerin wirft mit 35 plötzlich alles hin und versucht, «Jugend» nachzuholen oder dem bisher allzu erfolgreich und glatt verlaufenen Leben verzweifelt «Sinn» abzuringen. Damit muss Erziehung rechnen: mit den Brüchen im (späteren) Leben, damit, dass wir als Menschen heute dazu aufgerufen sind, unsere eigenen Biografien zu schreiben. Dass wir Leben gestalten müssen.

Fit fürs Leben

«Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel», wird Johann Wolfgang von Goethe zitiert. Der Neurobiologe und Hirnforscher Gerald Hüther sagt: «Im Grunde braucht jedes Kind drei Dinge: Beziehungen, in denen es sich aufgehoben fühlt, Vorbilder, an denen es sich orientieren kann und Herausforderungen, an denen es wachsen kann.» Beide sprechen nicht von «Schulstoff», sie sprechen nicht davon, Kinder und Jugendliche «fit zu machen für die Arbeitswelt». Sie reden davon, Kinder «fit zu machen für ihr Leben» und das heisst vor allem: «fit zu machen für sich selbst».

Die Rudolf Steiner Schulen versuchen genau das. Ihr Lehrplan orientiert sich nicht in erster Linie an den Notwendigkeiten, den Anforderungen der Gesellschaft sondern fragt, welcher Schulstoff wann und wie die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu freien, selbstbestimmten und kreativen Menschen unterstützt. Welchen Stoff sie brauchen, um die drängenden Lebensrätsel jedes Alters lösen zu helfen; welcher Stoff Kinder und Jugendliche «nährt». Der Schulstoff will «Seelennahrung» sein. Und Keim.

Kennen Sie das? Im Rückblick erscheint manches, was zunächst rätselhaft, ja befremd­lich auf uns gewirkt hat, plötzlich sinnvoll. Ein Lebensereignis rückt, nachträglich betrachtet, in ein anderes Licht: Hätte ich damals im Urlaub dieses Mädchen nicht getroffen, hätte ich nie Spanisch gelernt. Und könnte heute den Job nicht machen, der mir ganz neue Perspektiven eröffnet.

Für lebendiges Wissen

Eine Bekannte hat mir einmal erzählt, wie ein einziger Satz ihres Vaters während ihrer Kindheit sie später mehrmals davor bewahrt hat, zu verzweifeln und an schwierigen Weggabelungen ihres Lebens den Mut nicht zu verlieren: «Die hat starke Hände, die findet immer etwas, was sie tun kann».

Was wir heute tun, mit was wir uns heute beschäftigen, in und ausserhalb der Schule, es wirkt weiter, entfaltet sich, verwandelt sich, wächst. Vorausgesetzt, es ist nicht nur «totes Wissen» oder stumpfes Training.Die ersten rund 20 Jahre eines Lebens dienen dem körperlichen Aufbau, bis Mitte 30 entfalten sich die Seelenfähigkeiten. Irgendwann dann kommt der Moment, in dem die Biografie «kippt», körperlich der Abbau überhand nimmt und es darauf ankommt, geistige Fähigkeiten  freizusetzen. Irgendwo hier liegt eine Art «Spiegelungsachse», Albrecht Klaus meint bei 31,5 Jahren, Matthias Wais spricht von 35 Jahren, auch für 42 Jahre liessen sich Gründe finden.

Allen diesen Ansätzen ist eines gemeinsam: Die Jahre vorher und nachher entsprechen sich «spiegelverkehrt». Die ersten sieben Jahre – sie kommen so recht erst zum Tragen mit Mitte 50, Anfang 60, wenn wir von den 31,5 Jahren des Albrecht Klaus ausgehen. Legen wir die anderen Spiegelachsen zugrunde, noch viel später.

Dann erst zeigt sich, ob wir «erfolgreich» waren. Denn Erziehung ist – im wahrsten Sinne des Wortes ein «Lebenswerk»!

Jörg Undeutsch

Beziehungsfähigkeit als Voraussetzung für eine bewusste Sexualität

Wir brauchen heute statt einer punktuellen Aufklärung und einer Serie von Präventionsveranstaltungen eine bewusste Erziehung zur Beziehungsfähigkeit.

FondsGoetheanum: Pädagogik und Kleinkinderziehung

Dies war das Ergebnis einer von der Arbeitsgemeinschaft der Rudolf Steiner Schulen der Schweiz und Lichtensteins veranstalteten Tagung: «Sexualerziehung heute». Denn die Fragen der Sexualerziehung stellen heute für Eltern, Schule und politisch Verantwortliche eine grosse Herausforderung dar. Die Aufgabe war, aus der Unterrichtspraxis Lehrplangesichtspunkte, Methoden und Lehrmittel zur «Beziehungskunde» zu entwickeln. Mit der Koordination des Projektes wurde Christian Breme, Lehrer an der Rudolf Steiner Schule Basel, beauftragt. Das Projekt geht ins vierte Jahr; Christian Breme konnte inzwischen 28 Rudolf Steiner Schulen bei der Entwicklung eigener Konzepte beraten.

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Im Folgenden einige Beispiele aus der Praxisforschung. Sie zeigen Situa­tionen, bei denen die Integration der Aufklärungs- und Beziehungsfrage im normalen Fachunterricht möglich ist. 

Pflanzenkunde 5. Klasse: Nach dem Modellieren zahlreicher Blütenformen schafft jedes Kind eine Hohlkugel als Bild derjenigen Blüte, «in der wir vor der Geburt als Frucht aufgewachsen sind. Wir nennen sie Gebärmutter.»

8. Klasse: Während eines dreiwöchigen Menschenkundeunterrichts zeichnet jede Schülerin und jeder Schüler ein Skelett. Der eigene Körper wird vermessen. Unterschiede des männlichen und weiblichen Skeletts werden sichtbar. Die Geburtssituation wird besprochen. Wieder ergibt sich die Möglichkeit, Fragen der menschlichen Geschlechtlichkeit anzuknüpfen. Auf diese Weise verliert Sexualität ihre isolierte Stellung.

Christian Breme: Menschenbild und Lebenskunde – Elemente einer Sexualerziehung aus spirituellem Verständnis; AAP-Verlag