FondsGoetheanum: Altern und Sterben

Gute Erziehung – reiches Leben

Was ist eine gute Erziehung? Woran misst sie sich? Woran orientiert sie sich? Antworten aus anthroposophischer Sicht.

FondsGoetheanum: Pädagogik und Kleinkinderziehung
Wurzeln und Flügel fürs spätere Leben. Fotograf: Aljoscha Thomas

Bin ich eine gute Mutter? Bin ich ein guter Vater? Die Frage ist schmerzhaft, aber unver­meidlich. Nur: Woran messe ich, ob ich «gut» bin als Mutter oder Vater?Messe ich es daran, ob und wie weit es mir gelingt, die Ratschläge umzusetzen, die mich aus Büchern und Zeitschriften, von Freunden, Bekannten, Verwandten her förmlich überfallen? Oder daran, dass es mir gelingt, mich dagegen abzugrenzen und meinem eigenen Wahr­nehmen, Empfinden und Nach­denken zu vertrauen und treu zu bleiben?

Messe ich den Erfolg der Erziehung am «Output», dem Ergebnis, daran, wie gut das Kind «geraten» ist – oder wie erfolgreich es im Leben steht?

Wer aber weiss heute schon, was morgen erfolgreich ist? Der Heilpädagoge und Autor Henning Köhler spricht vom «Drama des folgsamen Kindes»: Ein «wohl erzogenes», gut angepasstes Kind, das sich in der Pubertät nicht zu rebellieren traut, nach Köhler ist es schlecht vorbereitet auf ein Leben, das heute immer weniger gradlinig verläuft. Der scheinbar erfolgreiche Jungunternehmer mit teurem Auto, Kind und schicker Lebensabschnittspartnerin wirft mit 35 plötzlich alles hin und versucht, «Jugend» nachzuholen oder dem bisher allzu erfolgreich und glatt verlaufenen Leben verzweifelt «Sinn» abzuringen. Damit muss Erziehung rechnen: mit den Brüchen im (späteren) Leben, damit, dass wir als Menschen heute dazu aufgerufen sind, unsere eigenen Biografien zu schreiben. Dass wir Leben gestalten müssen.

Fit fürs Leben

«Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel», wird Johann Wolfgang von Goethe zitiert. Der Neurobiologe und Hirnforscher Gerald Hüther sagt: «Im Grunde braucht jedes Kind drei Dinge: Beziehungen, in denen es sich aufgehoben fühlt, Vorbilder, an denen es sich orientieren kann und Herausforderungen, an denen es wachsen kann.» Beide sprechen nicht von «Schulstoff», sie sprechen nicht davon, Kinder und Jugendliche «fit zu machen für die Arbeitswelt». Sie reden davon, Kinder «fit zu machen für ihr Leben» und das heisst vor allem: «fit zu machen für sich selbst».

Die Rudolf Steiner Schulen versuchen genau das. Ihr Lehrplan orientiert sich nicht in erster Linie an den Notwendigkeiten, den Anforderungen der Gesellschaft sondern fragt, welcher Schulstoff wann und wie die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu freien, selbstbestimmten und kreativen Menschen unterstützt. Welchen Stoff sie brauchen, um die drängenden Lebensrätsel jedes Alters lösen zu helfen; welcher Stoff Kinder und Jugendliche «nährt». Der Schulstoff will «Seelennahrung» sein. Und Keim.

Kennen Sie das? Im Rückblick erscheint manches, was zunächst rätselhaft, ja befremd­lich auf uns gewirkt hat, plötzlich sinnvoll. Ein Lebensereignis rückt, nachträglich betrachtet, in ein anderes Licht: Hätte ich damals im Urlaub dieses Mädchen nicht getroffen, hätte ich nie Spanisch gelernt. Und könnte heute den Job nicht machen, der mir ganz neue Perspektiven eröffnet.

Für lebendiges Wissen

Eine Bekannte hat mir einmal erzählt, wie ein einziger Satz ihres Vaters während ihrer Kindheit sie später mehrmals davor bewahrt hat, zu verzweifeln und an schwierigen Weggabelungen ihres Lebens den Mut nicht zu verlieren: «Die hat starke Hände, die findet immer etwas, was sie tun kann».

Was wir heute tun, mit was wir uns heute beschäftigen, in und ausserhalb der Schule, es wirkt weiter, entfaltet sich, verwandelt sich, wächst. Vorausgesetzt, es ist nicht nur «totes Wissen» oder stumpfes Training.Die ersten rund 20 Jahre eines Lebens dienen dem körperlichen Aufbau, bis Mitte 30 entfalten sich die Seelenfähigkeiten. Irgendwann dann kommt der Moment, in dem die Biografie «kippt», körperlich der Abbau überhand nimmt und es darauf ankommt, geistige Fähigkeiten  freizusetzen. Irgendwo hier liegt eine Art «Spiegelungsachse», Albrecht Klaus meint bei 31,5 Jahren, Matthias Wais spricht von 35 Jahren, auch für 42 Jahre liessen sich Gründe finden.

Allen diesen Ansätzen ist eines gemeinsam: Die Jahre vorher und nachher entsprechen sich «spiegelverkehrt». Die ersten sieben Jahre – sie kommen so recht erst zum Tragen mit Mitte 50, Anfang 60, wenn wir von den 31,5 Jahren des Albrecht Klaus ausgehen. Legen wir die anderen Spiegelachsen zugrunde, noch viel später.

Dann erst zeigt sich, ob wir «erfolgreich» waren. Denn Erziehung ist – im wahrsten Sinne des Wortes ein «Lebenswerk»!

Jörg Undeutsch