Der Erde neue Kräfte geben
Die Anwendung von Heilpflanzen für die menschliche Gesundheit ist seit langem bekannt und erlebt heute einen regelrechten Boom. Heilpflanzen für den Boden kennt man kaum. Aber die biodynamische Landwirtschaft wendet sie seit mehr als 90 Jahren erfolgreich an.
Als Landwirte und Agronomen Rudolf Steiner, den Begründer der biodynamischen Landwirtschaft, anfangs des letzten Jahrhunderts fragten: «Wie kann man die Erde, die Pflanzen und unsere Ernährung regenerieren?», antworte er: «Wir müssen der Erde neue Kräfte geben.»
Sechs Heilpflanzenpräparate, die es in sich haben
Konkret schlug er unter anderem eine Komposition von sechs Heilpflanzenpräparaten vor, die nach spezieller Zubereitung dem Dünger – sei es Pflanzenkompost, Mist, Gülle oder weitere organische Stoffe – in kleinsten Mengen zugesetzt werden. Sie sollen durch ihre Kräfte den Boden verlebendigen und dadurch den Kulturpflanzen helfen, die verschiedenen wichtigen Nährstoffe aktiv im Boden zu finden.
Wie lassen sich die speziellen Kräfte und Prozesse dieser Pflanzen erkennen und verstehen? Eine der besten Möglichkeiten ist, diese Pflanzen in ihrer Umgebung genau zu betrachten und zu versuchen, daraus die Geste, die besondere Lebensform jeder Pflanze zu begreifen.
Jede Pflanze hat spezielle Qualitäten
Die Heilpflanzen für die biodynamischen Präparate – Löwenzahn, Kamille, Brennnessel, Baldrian, Schafgarbe und Eichenrinde – werden im Jahreslauf gesammelt. Als Beispiele beschreiben wir die beiden Präparatepflanzen Löwenzahn und Kamille und versuchen, aus dem konkreten Erlebnis der Pflanze in ihrer Umwelt ihre Beschaffenheit und ihre besonderen Fähigkeiten zu skizzieren.
Auf zur Löwenzahnernte
Im Frühling, wenn das Wetter noch feucht und kalt ist, gehen die biodynamischen Landwirte in frische, gut gedüngte Weiden, um Löwenzahnblüten zu pflücken. Es ist die Zeit, in der die Weiden durch die unzähligen kleinen Köpfchen des Löwenzahns goldgelb strahlen, als ob die Sonne sich auf der Erde spiegeln würde.
Sobald der Himmel bedeckt ist, erscheint die Weide ganz grün, denn alle Blüten haben sich geschlossen. So zeigt der Löwenzahn wie ein pflanzliches Auge seine enge Beziehung zum Sonnenlicht. Diese Beziehung zum Himmel kommt auch bei der Bildung der Pusteblume zum Ausdruck. Mit ihrer ganz fein gegliederten, leichten und immer vollkommenen Struktur bildet sie eine Art Pflanzenkristall.
Digestif für den Boden
Je mehr frische Gülle auf die Wiesen gespritzt wird, desto mehr Löwenzahn wächst. Diese Tatsache zeigt eine weitere Fähigkeit des Löwenzahns: dem Boden helfen, zu viel organische Substanz zu verdauen. Eine ähnliche Wirkung zeigt der Löwenzahn beim Menschen als blutreinigende Pflanze, die in der Verdauung besonders Leber und Galle fördert. Als Heilmittel wird die tiefe Pfahlwurzel verwendet, und die bittere Blattrosette ergibt einen guten regenerierenden Frühlingssalat.
Im Boden Ordnung schaffen, mit dem Kosmos in Kontakt treten
Welche Qualitäten des Löwenzahns drücken sich durch diese Phänomene aus? Einerseits hilft der Löwenzahn, im Boden wucherndes Wachstum, verursacht durch zu viel frische organische Substanz, in geordnete Bahnen zu lenken. Andererseits stellt er als «Auge» der Wiese die Beziehung des Bodens zu den kosmischen Lichtkräften her.
Die Kamille wächst, wo andere Pflanzen passen
Wenden wir uns nun dem Kamillenpräparat zu. An einem exponierten, sehr hellen Standort werden im Juni, wenn die Tage am längsten sind, die Kamillenblüten gesammelt. Die hellgrünen Kamillenpflanzen wachsen auf festen, mineralischen und verdichteten Böden – auf Böden, auf denen sonst keine «vernünftige» Pflanze wachsen würde: Zum Beispiel auf Baustellen, wo die humose Schicht des Bodens entfernt und der Bagger den Boden festgewalzt hat.
Bei genauerer Beobachtung zeigt sich, dass die Kamille unter dem Boden eine sehr breite Sphäre von dichten weissen Wurzeln entwickelt hat. Hier ist nicht die Verankerung in die Tiefe und die Verdauung der organischen Substanz Thema, sondern der feste tote Boden soll verlebendigt und gelockert werden. Wasser und Luft können dank der Kamille wieder in den Boden eindringen. Er findet wieder seinen Rhythmus, kann wieder atmen. Anders als der Löwenzahn, der seine Blätter am Boden hält, hebt die Kamille ihre hellgrünen, leicht wässerigen, fleischigen und fein gegliederten Blätter hoch über den Boden.
Den toten Boden zu neuem Leben erwecken
Die Kamille wächst in Kolonien, diese bedecken den nackten Boden meist gänzlich. So wird der tote Boden von einer lebendigen Pflanzendecke geschützt. Anfang Juni entfalten sich unzählig viele kleine gelb-weisse Köpfchen am Ende jedes Stengels. Sie verblühen sehr schnell, um auf dem Boden sofort zu keimen. Der stark süsslich-milde Duft der Kamillenblüten ist eine Art Ausatmung, eine feinstoffliche Ausstülpung der Pflanzen in der sommerlich durchlichteten Atmosphäre. Es herrscht eine völlig andere Stimmung als beim Blühen des Löwenzahns im Frühjahr. Was drückt sich dadurch aus?
Als einjährige Pflanze, deren Samen sehr schnell wieder keimen, bleibt die Kamille drei bis vier Jahre an einem «toten» Standort und verschwindet, wenn sie ihre heilende Aufgabe erledigt hat: Die fest in die Erde gebundenen Substanzen ins Luftige und in Wärme zu verwandeln und so den Boden als lebendige Schicht zwischen Himmel und Erde wieder in Bewegung zu bringen.
Kamille hilft dem «verkrampften» Boden
Um dieses Heilpotential der Kamille weiter zu verstärken, werden in der biodynamischen Landwirtschaft die Blütenköpfchen der Kamille in einem Hüllenorgan (im Dünndarm eines Haustiers) in der Wintererde fermentiert. Man stellt Kamillenwürste her. Die Verwandtschaft zwischen Kamillenblüten und Darm ist sehr bekannt: Die Kamille ist das beste Heilmittel gegen allerlei Darmkrämpfe, besonders bei kleinen Kindern. Das fertige Präparat ist nur die verwandelte Blütensubstanz; die Reste der Därme werden vorschriftsgemäss entsorgt.
Wenn wir die vier anderen Pflanzen auf ähnliche Art in ihrer Entwicklung sowie bezüglich ihres natürlichen Standorts beschreiben, wird deutlich, dass wir es mit Heilmitteln, mit eigentlichen «Stärkungsmitteln» für den Boden zu tun haben.
Jean-Michel Florin
Ökologe und Co-Leiter der Sektion für Landwirtschaft
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