FondsGoetheanum: sozialtherapie

Forschung für die Qualität der Betreuung

Zur Zeit laufen verschiedene internationale Forschungsprojekte. Themen sind die Erforschung der anthropologischen Grundlagen, die Geschichte der anthroposophischen Heilpädagogik, die Bedeutung der Kinderkonferenz und der Umgang mit älter werdenden Menschen mit Behinderung.

Abgeschlossen werden konnte  ein schweizerisches Forschungsprojekt im Rahmen einer Dissertation an der Universität Siegen (DE)*. Im Mittelpunkt steht hier das von den Behörden bewilligte Qualitätsentwicklungsverfahren «Wege zur Qualität», das in Zusammenarbeit mit anthroposophischen Institutionen entwickelt wurde. In der heilpädagogischen Fachwelt gibt es viele Vorbehalte gegenüber Qualitätsverfahren. Man befürchtet, dass das Spezifische der Arbeit damit nicht erfasst werden kann.

 Durch gross angelegte Befragungen von Mitarbeitenden in 26 Institutionen, durch Interviews mit vielen Menschen mit Behinderungen, durch den Miteinbezug von Angehörigen und Auditoren zeigt dieses Projekt, dass «Wege zur Qualität» ein Verfahren ist, das sich fruchtbar umsetzen lässt und das spezielle Anliegen der Begleitung, Betreuung und Förderung von Menschen mit Behinderung berücksichtigt. Das Verfahren unterstützt die Bemühungen in der Praxis auf vielfältige Weise, so dass durch dessen Einführung nicht nur einer behördlichen Vorgabe Genüge getan wird, sondern dadurch die Qualität der Betreuung und Begleitung von Menschen mit Behinderungen effektiv und nachhaltig gesteigert wird.

Matthias SpalingerLeiter Fach- und Koordinationsstelle des vahs

 *) Andreas Fischer: Zur Qualität der Beziehungsdienstleistung in Institutionen für Menschen mit Behinderungen

Alter und Behinderung – den Sinn darin finden

Alter und Behinderung stellen eine doppelte Herausforderung dar. Die anthro­posophische Sozialtherapie zeigt Wege auf, darin Sinn und Gewinn zu finden.

FondsGoetheanum: Sozialtherapie und Heilpädagogik

«Heute darf ich als 68-jähriger das gemütliche Leben eines Pensionierten führen, helfe immer noch gerne im Büro, im Laden und beim Postverteilen mit», schreibt ein Mensch mit Behinderung am Schluss seiner Lebenserinnerungen. Menschen mit Behinderungen werden dank guter Begleitung immer älter; die Zahl der über 50-jährigen Menschen in den Institutionen hat sich seit 1990 mehr als verdoppelt, diejenige der über 60-jährigen sogar verzehnfacht. 

Diese Tatsache führt auf vielen Ebenen zu neuen Fragen und Herausforderungen, denen sich im Bereich Sozialtherapie alle Institutionen, aber auch die Mitarbeitenden, die Angehörigen und die Kostenträger stellen müssen.

Fakt ist, dass Behinderung und Alter gesellschaftlich negativ besetzte Begriffe sind, was die Gefahr einer doppelten Ausgrenzung mit sich bringt.  Obwohl sich heute eine neue Alterskultur etabliert – im positiven wie im negativen Sinne – stellt sich die Frage des Altwerdens für Menschen mit einer Behinderung noch einmal in einer ganz anderen Weise. Menschen ohne Behinderung können sich gezielt auf die neue Phase des Lebens vorbereiten, Vorkehrungen treffen und den Ausstieg aus dem Arbeitsleben bewusst planen. Gleichzeitig sind sie auch in der Lage, die oft mit dem  Alterungsprozess verbundenen Einschränkungen zu verstehen und gegebenenfalls zu akzeptieren. Dies ist für Menschen mit Behinderungen oft sehr schwer oder nicht möglich, sie sind dabei auf Hilfe, Unterstützung und Begleitung angewiesen. 

Schon seit vielen Jahren beschäftigt sich die anthroposophische Sozialtherapie mit der Frage der älter werdenden Menschen mit Behinderungen. Grundlage bildet ein Menschenverständnis, welches das Alter, aber auch Sterben und Tod, nicht nur negativ bewertet, sondern ihnen Sinn und Wert zuschreibt.

Übergänge individuell gestalten

Da auch Menschen mit Behinderungen individuell altern, geht es um eine personen- und bedürfnisbezogene Begleitung; diese kann von spezifischen kulturellen und spirituellen Angeboten bis hin zu baulichen und organisatorischen Massnahmen gehen. Denn die verschiedenen Bereiche des Lebens eines Menschen mit Behinderung – Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Kultur, soziale Kontakte und Selbstbestimmung – müssen gemeinsam mit ihm reflektiert, verändert und angepasst werden. Viele Betroffene äussern, dass sie es schätzen, in der gewohnten und vertrauten Umgebung zu bleiben und am sozialen und kulturellen Leben teilnehmen zu können. Die individuelle Gestaltung von Über­gängen in allen Bereichen des Lebens wird zur grossen Herausforderung in der Begleit­ung von älter werdenden Menschen mit Behinderung. Der Wechsel vom Arbeitsleben zur Pensionierung muss mit viel Fingerspitzengefühl geplant werden; denn einige Menschen mit Behinderungen sind schon weit vor dem Pensionsalter nicht mehr in der Lage, in einer Werkstatt voll mitzuarbeiten und brauchen mehr Zeit zur Erholung. So muss das Arbeitspensum individuell und langsam reduziert werden, denn den in der «normalen» Gesellschaft abrupten Wechsel von voller Berufstätigkeit zur Pensionierung verkraften diese Menschen nicht, er ist für sie mit einer Entwertung verbunden.

Schwierige, aber wertvolle Biographiearbeit

Dies zeigt, dass an die Mitarbeitenden in der Begleitung von älter werdenden Menschen ganz spezifische und besondere Anforderungen gestellt werden, einerseits in Bezug auf die Haltung und die Dialogfähigkeit, andererseits auch in Bezug auf Themen und Fragen des Alters. Wie bei allen älter werdenden Menschen bekommt das Aufarbeiten der Biographie eine spezielle Bedeutung, denn im Alter kommen oft Kindheitserinnerungen wieder zum Bewusstsein oder prägen unter Umständen das Verhalten. Es ist die Aufgabe der Betreuenden, gemeinsam mit den Betroffenen, die Biographie rückblickend zum Bewusstsein zu bringen, denn von vielen Menschen mit Behinderung, die ihr Leben in einer heilpädagogischen oder sozialtherapeutischen Einrichtung verbracht haben, existieren nur wenig biographische Zeugnisse. Zudem haben viele in ihrer Biographie soziale Benachteiligungen erlebt wie Ausgrenzung, Ablehnung, negative Zuschreibungen und den Verlust oder das Fehlen familiärer Bezugspersonen; all diese Ereignisse werden im Alter wieder aktuell und können den Alterungsprozess belasten. Bei kompetenter Begleitung ist aber sehr oft erlebbar, dass Menschen mit Behinderungen im Alter noch einmal einen Entwicklungsschritt vollziehen, der zeigt, dass Altwerden nicht nur eine Belastung darstellt, sondern dass Schritte der Reifung möglich sind, in denen das Individuelle einer Biographie sich noch einmal deutlich zeigen kann.

Andreas Fischer 

www.hfhs.ch