Die organisch-lebendige Architektur im 20. Jahrhundert
Die organisch-lebendige Architektur hat ihren Ursprung im architektonischen Schaffen Rudolf Steiners. Seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts haben viele Architekten aus allen Kontinenten versucht, aus diesem Impuls heraus zu arbeiten und eine zeit-, menschen- und geistesgemässe Architektur zu entwickeln. Die ersten Beispiele dieser Bemühung erschienen seit den 20er Jahren in Dornach dank der Arbeit von Architekten, die zum grossen Teil an der Planung und Errichtung des Goetheanum und seiner Nebenbauten mitgewirkt hatten. Stellvertretend für diese Gruppe kann man die Namen von Ernst Aisenpreis, Hermann Ranzenberger, Albert von Baravalle, Otto Moser, Felix Durach und Carl Kemper erwähnen. Ihre Tätigkeit entfaltete sich hauptsächlich im Bereich der Wohnbauten.
Die organisch-lebendige Architektur verbreitete sich erst nach dem zweiten Weltkrieg in Europa und später in anderen Kontinenten. Anlass dafür bot hauptsächlich die Errichtung von Waldorfschulen und anderer Einrichtungen auf anthroposophischer Grundlage. Die Architekten dieser ersten Nachkriegsphase (50er – 70er Jahre) entwickelten langsam neue Ansätze aufgrund der Impulse Rudolf Steiners und engagierten sich mit grosser Energie für die Verbreitung der organisch-lebendigen Gestaltung mit Hilfe von Vorträgen, Tagungen, Büchern und Veröffentlichungen. Bemerkenswert in diesem Sinne war die Tätigkeit von Rex Raab (UK-DE), Erich Zimmer (DE-CH), Wilfried Ogilvie (DE), Kenji Imai (JP) und des schwedischen Künstlers Arne Klingborg. Parallel dazu interessierten sich einige der berühmtesten Architekten der Zeit (wie z.B. Hans Scharoun und Le Corbusier) für das Werk Rudolf Steiners, was manchmal nicht ohne Auswirkungen blieb.
In den 70er – 80er Jahren erfuhr die organisch-lebendige Architektur einen Aufschwung, der zum grossen Teil mit der erhöhten Bautätigkeit der Waldorfschulen und anderer anthroposophischer Einrichtungen in Europa zu verbinden ist. Dadurch wurde der Ansatz auch ausserhalb der anthroposophischen Bewegung populär. Auch der Kreis der organischen Gestalter wuchs, so dass es nicht möglich ist, alle diejenigen zu erwähnen, die einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung dieses Ansatzes geleistet haben. In Mitteleuropa wurde die Szene durch Architekten wie Werner Seyfert, Winfried Reindl, Jens Peters und Nikolaus Ruff (Schüler des berühmten Stuttgarter Architekten und Professor Rolf Gutbrod) geprägt. Die letzteren (Begründer des Büros BPR in Stuttgart) gestalteten ausser Gebäuden auch eine Reihe von interregionalen und ICE-Zügen für die Deutsche Bahn AG. In Schweden entwarfen Erik Asmussen und Arne Klingborg seit Ende der 60er Jahre ein anthroposophisches Seminar- und Kulturzentrum in Järna bei Stockholm, das jahrelang viele jungen Architekten aus verschiedenen Ländern zu Tagungen, zu Kursen und zur Mitarbeit am Bau anzog. In Grossbritannien und Nordamerika wurden seit den 60er Jahren Bauten für die heilpädagogische Bewegung „Camphill“ errichtet. Gabor Tallo und Joan De Ris Allen gründeten in diesem Zusammenhang die internationale Gruppe „Camphill Architects“. In Ungarn entwickelte Imre Makovecz noch in sozialistischer Zeit einen organischen Ansatz mit starken Verbindungen zur Volkstradition. Ende der 80er Jahre plante das Büro Alberts & Van Huut den Hauptsitz der Bank ING in Amsterdam, mit Berücksichtigung von ökologischen Aspekten. Das Gebäude regte viel Aufmerksamkeit auf internationaler Ebene und galt als Kulmination einer erfolgreichen Periode der organischen Architektur. Im Zusammenhang mit seiner Eröffnung wurde 1990 das Internationale Forum Mensch und Architektur gegründet, mit dem Ziel, den Austausch unter Architekten und die weitere Verbreitung des organischen Ansatzes zu fördern. Seit dem hat sich die Bewegung weiter differenziert und in Ländern wie Australien, Süd Afrika, Brasilien, Japan mit neuen Qualitäten entfaltet. Ein Übersicht der Arbeit weltweit wurde im Jahr 2000 in Dornach mit der Ausstellung „Architektur der Wandlung“ und später mit der Ausstellung „Organische Architektur“ in Amsterdam (2003) und Berlin (2005) präsentiert. Im Zusammenhang mit den beiden Ausstellungen erschien 2001 das erfolgreiche Buch „Organische Architektur“ von Pieter van der Ree.