«Das einzig Gesunde ist doch, allen Einfluß auf den Willen des anderen Menschen nur durch Erkenntnis hindurch zu bekommen. Erkenntnis soll etwas sein, wodurch sich die eine Seele mit der anderen verständigt.»
Rudolf Steiner, «Von Jesus zu Christus», GA 131, 7. Aufl. 1988, 1. Vortrag, Karlsruhe, 5. Okt. 1911, S. 47
Weihnachtstagung 1923 und institutionelle Folgen
Bis zur Weihnachtstagung im Dezember 1923 sollen die Landesgesellschaften gegründet, deren Statuten festgelegt und Generalsekretäre der Länder bestimmt sein. Es wird deutlich, dass nicht mehr Deutschland, sondern Dornach Zentrum der zunächst so genannten internationalen Anthroposophischen Gesellschaft wird. Zu diesem Zeitpunkt ist noch unklar, dass Rudolf Steiner an der Weihnachtstagung den Vorsitz der neu zu gründenden Gesellschaft in Dornach selbst übernehmen und seine Mitarbeiter bestimmen wird. Mit der Weihnachtstagung 1923/24 bilden die Landesgesellschaften ihren Zusammenhang in der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft.
Die angestrebte „einheitliche Konstituierung“ der Anthroposophischen Gesellschaft wirft 1924 und 1925 gesellschaftsrechtliche Schwierigkeiten auf. Zum einen soll die Weihnachten gegründete Gesellschaft handelsregisterlich eingetragen und ein Verhältnis zu den Landesgesellschaften hergestellt werden. Zum anderen müssen die in die Gesellschaft aufzunehmenden Unterabteilungen Klinik, Bauverein und Verlag aus ihren bisherigen rechtlichen Verankerungen gelöst und in einen Zusammenhang mit der Gesellschaft gebracht werden. Dies erweist sich im Verlauf des Jahres 1924 als nicht voll realisierbar. Am 8. Februar 1925 wird – nach anderen Versuchen – auf einer außerordentlichen Generalversammlung der „Verein des Goetheanum der freien Hochschule für Geisteswissenschaft“ in „Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft“ umbenannt. Seine Statuten werden so geändert, dass innerhalb dieses Vereins die rechtliche Handlungsfähigkeit der Institutionen und der Gesellschaft gewährleistet ist. Die Funktion des Bauvereins kommt jetzt der Administration des Goetheanum-Baus zu, als eine der neuen Unterabteilungen des umbenannten Vereins.
Mit dem Tod Rudolf Steiners am 30. März 1925 wird diese Lösung beibehalten; die Anthroposophische Gesellschaft und die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft arbeiten auf dem Boden der Statuten der Weihnachtstagung; Rechtliches, Wirtschaftliches und Administratives kann im Rahmen des umbenannten Vereins durchgeführt werden. Durch die innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen in den Folgejahren werden die Handelsregisterstatuten jedoch auch punktuell zur innergesellschaftlichen Rechtsgrundlage. Dieses „Konstitutionsproblem“ der Anthroposophischen Gesellschaft, das sich aus der Differenz zwischen den handelsregisterlich eingetragenen Statuten und den ideell verbindlichen Weihnachtstagungsstatuten ergibt, wird bis in die Gegenwart diskutiert. Gegenwärtig wird angestrebt, die Statuten der Weihnachtstagung zur gesellschaftsrechtlich verbindlichen Grundlage der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft werden zu lassen.