Lasst uns Kind sein
Immer wieder erlebe ich staunend im Erziehungsalltag mit den Kindern, wie stark sie alles, was sich in ihrer Umgebung abspielt, nachahmen. Es ist ein Wunder! Woher kommt diese Fähigkeit, die das Kind nie lernen muss, sondern die mit dem ersten Atemzug auf der Erde einfach vorhanden ist?
Meine kleine Enkeltochter fing mit sieben Monaten an, mit den Händchen zu winken, wenn Menschen auf sie zukamen oder an ihr vorbeigingen, dazu auf dem Gesicht ein fröhliches Lächeln.
Kinder spiegeln, was sie sehen
Ein Mädchen aus der Spielgruppe, welches gerade ein Geschwisterchen bekommen hatte, nahm eine Puppe und hielt sie an ihre Brust, um sie zu stillen. Ein anderes Kind griff zu einem rechteckigen Klotz, hielt diesen ans Ohr und telefonierte mit der Mutter in der gleichen Haltung, in der ich den Vater gerade vorher mit seinem Mobiltelefon beobachtet hatte. Sicher kennen auch Sie diese Situation, bei der ein Feuerwehrauto mit Tatütata von einem Kind am Strassenrand erlebt und das Erlebte geräuschvoll-dramatisch tagelang im Spiel verarbeitet wird! Was ist diese Nachahmungskraft, durch die Kinder förmlich in die Menschen, die Dinge, die Gebärden, die Gedanken ihrer Umgebung hineinschlüpfen?
Ungeheuer neugierig und wissensdurstig beobachten Kinder alles, was sie sehen und erleben, und setzen es unmittelbar im Spiel um oder ahmen die Bewegung nach. Aber auch unsere Gedanken werden von den Kindern gelesen. Sie sprechen etwas aus, was uns gerade durch den Kopf gegangen ist, und verblüffen uns damit!
Durch meine Beobachtung von Kindern in ihrer Nachahmungsfähigkeit habe ich mir die Frage gestellt, ob diese intensive Verbindung mit allem, was sie umgibt, aus der Zeit vor der Geburt stammt, also bevor die Gesetzmässigkeiten von Raum und Zeit das irdische Leben des Kindes bestimmen. Wahrscheinlich sind dem Wesen dann keine räumlichen Grenzen gesetzt, und es kann in alle Erlebnisse seelisch-geistig hineinschlüpfen – grenzenlos. Zeigt sich das nach der Geburt unmittelbar als Nachahmungskraft?
«Warum ich fühle, was du fühlst»
Sehr spannend knüpft in Bezug auf diese Frage die aktuelle Forschung an: Der Mediziner und Neurobiologe Joachim Bauer berichtet in seinem Buch «Warum ich fühle, was du fühlst» über die intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneuronen. Er schreibt: «Die Imitationskünste des Säuglings sind nicht darauf beschränkt, von den ersten Lebenstagen an Gesichtszüge zu spiegeln. Wenig später ist zu beobachten, wie er erste Anstalten macht, auch stimmliche Äusserungen durch eigene Lautbildungen nachzuahmen. Auf der Basis dessen, was Spiegelneuronen bereitstellen, hat der Säugling die Chance, mit seiner Umgebung emotional in Kontakt zu treten, Signale auszutauschen und ein erstes Urgefühl des Sich-Verstehens zu entwickeln.»
Die Spiegelneuronen gelten als Sitz des menschlichen Einfühlungsvermögens und seiner Intuition. Sie sind besondere Nervenzellen und ein Resonanzsystem im Gehirn, das uns Gefühle und Stimmungen anderer Menschen erkennen lässt. Das Einmalige ist, dass sie bereits Signale aussenden, wenn jemand eine Handlung nur beobachtet. Die Nervenzellen reagieren genau so, als ob man das Gesehene selbst ausgeführt hätte. Mitgefühl, Freude, aber auch Schmerzen zu empfinden, wird auf diese Weise erst möglich gemacht.
Auch Rudolf Steiner, der die Waldorfpädagogik begründete, wies schon vor etwa 100 Jahren darauf hin, dass bezüglich dieser Tatsache die Eltern und Erziehenden im Umkreis des Kindes eine grosse Verantwortung haben: Denn wir sind ständig Vorbilder, die nach-ge-ahmt werden. Sind wir uns im schnelllebigen Alltag dessen bewusst?
Die Überforderung der Kinder
Viele und zu schnelle Abläufe von Handlungen verunmöglichen den Kindern das Nachahmen. Hier zwei Beispiele: Im Auto sausen die Eindrücke vorbei, lassen nicht zu, aufgenommen zu werden. Wir müssen uns nicht wundern, wenn die Kinder nach geraumer Zeit weinen oder aggressiv werden. In Supermärkten erleben wir genervte Mütter und Väter, die im Eiltempo den Einkaufswagen füllen und die Kinder oft schreiend mit sich schleppen. In diesen Situationen findet das Kind keine Gelegenheit, selbst aktiv zu werden und nachzuahmen, was es bei seinen Eltern beobachtet.
Nicht nur mit unseren äusseren Aktivitäten, sondern auch mit unseren Gedanken und Empfindungen, mit allem, was wir sind und was wir tun, verbindet sich das kleine Kind hingebungsvoll. Erst etwa mit der Schulreife lässt die Nachahmungskraft nach.
Wir helfen kleinen Kindern, wenn wir ihnen täglich Gelegenheit für nachvollziehbare Tätigkeiten geben, damit sie in umfassendem Sinn Nachahmer sein dürfen und dabei lernen und wachsen können.
Bettina Mehrtens
Koordinationsstelle
Elementarpädagogik
Peter Selg: Das Kind als Sinnesorgan. Verlag des Ita Wegman Instituts, 2015.
Joachim Bauer: Warum ich fühle, was Du fühlst. Hoffmann und Campe, 2005.