Lehrstunde für Europa
1947 fand in Montreux der Gründungskongress der Föderalisten Europas statt. Der Schweizer Philosoph und Schriftsteller Denis de Rougemont schlug in seiner Rede ein föderalistisches Europa nach dem Vorbild der Schweiz vor.
In Montreux ging es im August 1947 um den Wiederaufbau der im Zweiten Weltkrieg zugrunde gegangenen Strukturen Europas. Ausgehend von der Schweiz, schlug Denis de Rougemont ein föderalistisches Europa vor. Er konkretisierte sechs Prinzipien, die auf grosses Interesse stiessen. Der Föderalisten-Kongress wurde 1948 in Den Haag fortgesetzt. Dort jedoch drehte der Wind.
Erstes Prinzip: Die Föderation kann nur aus dem Verzicht auf jegliche Idee organisierender Hegemonie durch eine der beteiligten Nationen hervorgehen.
Föderation beginnt mit dem Verzicht auf das «Recht-Haben». Dazu wird die ganze Geschichte der Eidgenossenschaft beigezogen und an einem Beispiel illustriert: «Während [der] letzten schweren Krise, dem Bürgerkrieg von 1847, in dem sich Katholiken und Protestanten gegenüberstanden, hatten die Sieger nichts Eiligeres zu tun, als den Besiegten die volle Rechtsgleichheit zurückzugeben. Aus diesem Akt des Verzichts auf die eroberte Hegemonie resultierte die Verfassung von 1848, die eigentliche Grundlage unseres modernen föderativen Staates.»
Zweites Prinzip: Der Föderalismus kann nur aus dem Verzicht auf jeglichen Systemgeist entstehen.
Hier geht es um einen anderen Verzicht, nämlich um den Verzicht auf eine äussere Ordnung, die massgebend für alle werden soll. «Föderieren heisst einfach, die konkreten und vielschichtigen Realitäten […] gemeinsam zu ordnen und so gut es geht zusammenzufügen […], indem man sie einerseits respektiert und andererseits in einem Ganzen zur Geltung bringt.»
Drittes Prinzip: Der Föderalismus kennt kein Minderheitenproblem.
Warum nicht? Weil überall die Qualität Vorrang hat und nicht die Quantität. «Für den Föderalismus ist es selbstverständlich, dass eine Minderheit gleich viel Wert haben kann oder in gewissen Fällen sogar mehr als eine Mehrheit. Dies, weil sie in seinen Augen eine unersetzliche Qualität – man könnte auch sagen: Funktion – darstellt.»
Viertes Prinzip: Die Föderation hat zum Ziel, nicht die Vielfalt auszulöschen und alle Nationen zu einem einzigen Block zu verschmelzen, sondern im Gegenteil ihre spezifischen Qualitäten zu erhalten.
Dieses Spezifische des einzelnen Beteiligten soll als Qualität hervorgehoben und von den anderen Beteiligten gefördert werden. So entsteht eine bewusst getragene Vielfalt als Lebensgrundlage: «Wenn Europa sich zusammenschliessen soll, dann muss es darum gehen, dass jedem seiner Mitglieder die Hilfe der anderen zugute kommt. Dadurch kann jedes seine Eigenheiten und seine Autonomie bewahren. […]Jede der Nationen, die Europa bilden, hat darin eine eigene und unersetzbare Funktion, wie diejenige eines Organs in einem Körper. […] Die Lunge braucht das Herz nicht zu ‹ertragen›. Alles, was man von ihr verlangt, ist, eine richtige Lunge zu sein, so gut wie nur möglich Lunge zu sein, und in dem Masse hilft sie dem Herz, ein gutes Herz zu sein.»
Fünftes Prinzip: Der Föderalismus beruht auf der Liebe zur Komplexität, im Gegensatz zur brutalen Vereinfachung, die den Geist des Totalitarismus charakterisiert.
Die Komplexität zu lieben, ist eine ungewöhnliche Aufforderung. Aus de Rougemonts Formulierung geht hervor, dass die Komplexität jedem System eine besondere Qualität verleiht. «Wenn Ausländer sich über die extrem komplizierten schweizerischen Institutionen wundern, die sich etwa so bewegen wie ein feines Uhrwerk, zusammengesetzt aus kommunalen, kantonalen und eidgenössischen Räderwerken, die so differenziert ineinander greifen, dann muss man ihnen zeigen, dass diese Komplexität die Voraussetzung für unsere Freiheiten ist.»
Und schliesslich sechstes Prinzip: Eine Föderation entwickelt sich durch Nähe und durch Personen und Gruppen und geht gerade nicht von einem Zentrum oder von Regierungen aus.
Dieses Prinzip hat eine Sonderstellung. Es steht etwas über den anderen und ist weniger dem Geschehen verbunden. Es bezieht sich nicht auf das «Was», sondern auf das «Wie» «Ich sehe die europäische Föderation sich langsam bilden, an vielen Orten und auf alle möglichen Arten. Hier ist es ein wirtschaftliches Übereinkommen, da ist es eine kulturelle Verwandtschaft, die sich bekräftigt. […] Die Notwendigkeit ist offensichtlich, die historische Reife ist weit fortgeschritten, die Strukturen schon skizziert. Es fehlen nur noch eine Verfassung für die Föderation, repräsentative Organe und ein letzter Elan, ein Volkswille, der die Regierungen zum Handeln zwingt.»
In der Sternstunde seiner Rede ist es Denis de Rougemont gelungen, diese Prinzipien in einer Haltung zu formulieren, die uns die Möglichkeit geben, einen menschengetragenen Rechtsraum für Europa zu bilden.
Marc Desaules